Der frühere UN-Diplomat Michael von der Schulenburg ist bei der letzten EU-Wahl für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in das EU-Parlament gewählt worden. Im Gespräch mit BUSINESS & DIPLOMACY sagte er im Vorfeld, weshalb er sich zur Wahl gestellt hat. Das Interview erschien erstmalig am 29 Mai 2024 und wird an dieser Stelle mit der ausdrücklichen Genehmigung von Michael von der Schulenburg veröffentlicht.
Interview: Frank Schüttig
HERR VON DER SCHULENBURG, SIE WAREN EHEMALIGER ASSISTANT SECRETARY-GENERAL DER VEREINTEN NATIONEN UND HABEN ÜBER 34 JAHRE IN VIELEN KRIEGSGEBIETEN DER WELT IN LEITENDER FUNKTION IN VN-FRIEDENS- UND ENTWICKLUNGSMISSIONEN GEARBEITET. WELCHE ERLEBNISSE UND ERFAHRUNGEN HABEN SIE BESONDERS GEPRÄGT?
Als 1989 die Berliner Mauer fiel, lag ich unter dicken Decken in einem durchgelegenen Bett im ehemaligen deutschen Klub in Kabul. Ich war damals der VN-Missionschef und der einzige Gast. Es war noch Krieg in Afghanistan und es gab weder Heizung noch Elektrizität. Mein kleines Radio mit den BBC-Nachrichten funktionierte nur mit Batterien. Da ich in der DDR aufgewachsen und 1969 über die Ostsee geflohen war, war das ein hoch emotionaler Moment für mich.
Es war die Hoffnung nach Verständigung, nach Frieden und einer besseren Welt. Aber das stellte sich sehr schnell als Irrtum heraus. So wurde ich in den kommenden Jahren Zeuge vieler militärischer Interventionen des Westens, die allesamt nur zu Chaos und unermesslichem menschlichen Leiden geführt haben. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder gar wirtschaftlichen Aufschwung oder mehr soziale Gerechtigkeit haben diese Interventionen den Menschen dort nie gebracht. Für jemand, der so sehr an Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit glaubt, war es ein tiefer Schock, dass nun wir, der Westen, uns so kriegerisch, ja oft mörderisch benahmen.
WARUM KANDIDIEREN SIE JETZT FÜR DAS BÜNDNIS SAHRA WAGENKNECHT ZU DEN EUROPAWAHLEN?
Nun, zuallererst halte ich Sahra Wagenknecht für die fähigste, vernünftigste und mutigste Politikerin, die ich kenne, nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern überhaupt – und ich habe ja sehr viele Politiker weltweit in meinem beruflichen Leben getroffen. Und dann halte ich auch das Wahlprogramm des Bündnisses Sahra Wagenknecht, wofür ich einen Beitrag gemacht hatte, für das weitaus bestdurchdachte und originellste Wahlprogramm aller Parteien, die zur Europawahl antreten. Diese Europawahl ist vielleicht die wichtigste Wahl in der Geschichte der EU. Sie muss eine Richtungswahl für Frieden werden. Denn wir brauchen Frieden in Europa. Das Europäische Parlament, als die einzige demokratisch legitimierte Institution der Europäischen Union, müsste dabei eine wichtige Rolle spielen – insbesondere bei einer friedlichen Lösung des Ukrainekrieges. Ich hoffe, dass ich mit meinen langen Erfahrungen mit Kriegen und Friedenslösungen einen Beitrag dazu leisten kann.
WIE KÖNNTE DER UKRAINEKRIEG ÜBERWUNDEN WERDEN, WIE KANN EINE LÖSUNG AUSSEHEN?
Es gibt eine sehr allgemeine Erfahrung im Umgang mit Kriegen: Wer von Moral spricht, will damit eine Verlängerung von Kriegen rechtfertigen, wer hingegen über Interessen nachdenkt, sucht nach Lösungen. Und um Lösungen zu finden, ist Verstehen das Zauberwort – ein Wort das Kriegsbefürworter deshalb so hassen. In allen Kriegen geht es um Interessen und nie um Moral. Deshalb müssen wir anfangen zu verstehen, welche Interessen Russland und welche der Westen in diesem Krieg verfolgen. Wir kennen die Interessen Russlands recht genau und auch die der Vereinigten Staaten dürften klar sein. Nur welche Interessen – wirkliche Interessen und keine moralischen Floskeln – die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten in diesem Krieg verfolgen, ist mir völlig unklar. Leider werden ukrainische Interessen kaum eine Rolle spielen. Die Ukraine ist durch die Auseinandersetzung zwischen Russland und den Vereinigten Staaten derart unter die Räder gekommen, dass sie letztlich akzeptieren muss, was die Großmächte entscheiden – und diese werden nur ihren eigenen Interessen folgen.
SIE RUFEN DIE EU DAZU AUF, EINE FÜHRENDE ROLLE BEI DER BEENDIGUNG DES UKRAINEKRIEGES ZU ÜBERNEHMEN.
Mit der gerade erfolgten Genehmigung von fast $ 100 Milliarden für Waffenlieferungen an die Ukraine, nach Israel und Taiwan wollen die USA erneut ihren globalen Machtanspruch einfordern. Wie in der Vergangenheit scheinen den USA nichts anderes dazu einzufallen, als das mit militärischer Stärke durchsetzen zu wollen – ein gefährlicher Weg, denn in allen drei Fällen handelt es sich um Konflikte, in denen es um sensible nationale Sicherheitsinteressen von Atommächten geht. Und doch mutet eine derartige militärische Kraftmeierei irgendwie obsolet an; denn die Zeit ist schon längst über solche unilateralen Machtansprüche hinweggegangen. Es ist daher zweifelhaft, ob die USA mit solchen Waffenlieferungen mehr erreichen, als nur noch mehr Zerstörungen und unermessliches menschliches Leiden zurückzulassen; auch in der Ukraine.
Das alles bringt die EU in eine schwierige Lage, denn ein derart hochriskantes geopolitisches Machtgebaren wird Europa weiter marginalisieren; es ist kaum im europäischen Interesse. Aber auch den Europäern scheint nichts dazu einzufallen. Ideen, wie eigene Soldaten in die Ukraine zu entsenden oder mit Taurus Marschflugraketen eine Wunderwaffe zu haben, um den Krieg doch noch gewinnen zu können, sind einfach undurchführbar und dumm. Von der Leyens Ankündigungen, die Ukraine im Schnellverfahren in die EU aufnehmen zu wollen, werden sich als leere Versprechungen herausstellen. Die ständig wiederholte Parole: „wir unterstützen Euch, solange es braucht“ macht eben keinen Sinn.
Und doch, der Ukrainekrieg ist ein Krieg auf europäischen Boden und so sollte es doch die vornehmliche Rolle der Europäischen Union und ihrer Mitglieder sein, eine Lösung zur Beendigung dieses Krieges zu finden und durchzusetzen. In der EU muss dabei die Erkenntnis durchdringen, dass der Ukrainekrieg und die damit verbundene Auseinandersetzung mit Russland nicht in ihrem Interesse ist, dass auch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht in ihrem Interesse ist und dass die EU, um zu retten, was noch zu retten ist, sich für eine neutrale Ukraine einsetzen muss. Aber dazu, so befürchte ich, fehlen uns in Europa politische Persönlichkeiten, die den Mut aufbringen könnten, das Ruder herumzureißen. Ich sehe hier Sahra Wagenknecht als die einzige Ausnahme.
WAS WÄRE AUS IHRER SICHT DIE FOLGE, WENN DIE EU WEITERHIN PASSIV BLEIBT?
Die EU würde sich von einer zukünftigen Friedenslösung auf dem europäischen Kontinent ausschließen. Damit riskiert sie, neben der Ukraine zu den großen Verlierern dieses Krieges zu gehören. Die EU würde weiter an Einfluss in der Welt verlieren und wirtschaftlich jeden Standortvorteil, der durch ihren Zugang zu den Ressourcen und Märkten Asiens bestand, einbüßen. Gleichzeitig werden enorme Kosten durch den Krieg auf die EU zukommen und das könnte auch innerhalb der Union zu erheblichen sozialen Unruhen führen. Die EU könnte gar daran zerbrechen. Besserwisserei und Überheblichkeit sind eben keine Politik. Bei einer Wahl Donald Trumps können wir davon ausgehen, dass er eine Verständigung mit Russland über die Köpfe der EU hinweg erreichen wird. Und da ist dann noch China, dass gerade in einer Vermittlerrolle zwischen Kiew und Moskau pendelt und dabei, ähnlich wie bei der Vermittlung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, erfolgreich sein könnte. Es sieht also so aus, dass die USA und/ oder China eine Lösung zur Beendigung dieses Krieges finden könnten. Die EU würde dann nur noch zahlen dürfen.
MIT WELCHEN THEMEN WOLLEN SIE SICH AUSSERDEM IM EU-PARLAMENT BESCHÄFTIGEN?
Wir müssen den Weg zu einer globalen Friedensordnung zurückfinden und die Aushöhlung des Völkerrechts stoppen. Deshalb müssten wir im Westen mit all dem Gerede einer regelbasierten Ordnung aufhören, von der sowieso niemand weiß, was das ist. Mit dem Ende des Traums von einer vom Westen beherrschten unipolaren Welt, brauchen wir wieder ein Völkerrecht, das auf der VN-Charta aufbaut, einer Charta, die einmal von 193 Staaten in der Welt anerkannt wurde.
Michael von der Schulenburg, Mitglied des EU-Parlaments für das Bündnis Shara Wagenknecht, Unterstützer der deutschen Friedensbewegung und ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen, floh 1969 aus der DDR, studierte in Berlin, London und Paris, arbeitete und lebte über 34 Jahre in Friedens- und Entwicklungsmissionen der Vereinten Nationen und kurz der OSZE in vielen Ländern, die durch Kriege, durch Konflikte mit bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren oder durch ausländische Militärinterventionen geschwächt und zerrissenen waren. Seit 1992 war er in leitender Funktion dieser Friedensmissionen. Zu diesen gehörten langfristigen Einsätzen in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, in Somalia, auf dem Balkan, in der Sahelzone und in Zentralasien.
Seit seiner Pensionierung hat Schulenburg viele Vorträge in akademischen Institutionen gehalten und Artikel zu Themen wie UN-Reformen, nicht-staatliche bewaffnete Akteure, Kriege innerhalb von Staaten aber auch über die Kriege in Afghanistan, Irak und Ukraine veröffentlicht. 2017 erschien sein Buch On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations, AUP. He is active in the German peace movement. (www.michael-von-der-schulenburg.com)
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