Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ von 1990: Warum in Russland über sein Ende nachgedacht wird

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  • Juni 7, 2024
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Die Politik Deutschlands wird von den Verantwortlichen wie folgt zusammengefasst: „Deutschland setzt sich für das Völkerrecht ein.“ Damit soll alles gesagt sein, damit ist Deutschland auf der richtigen Seite. Doch auch wenn es deutsche Politiker überraschen mag: Im Ausland wird das schon längst nicht mehr so gesehen. Und in Russland sowieso nicht. 

Ein Beitrag von Tom J. Wellbrock

WDS

In Russland wird schon seit Längerem über den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ diskutiert. Dieser stammt aus dem Jahr 1990 und wurde zwischen den Siegermächten USA, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion auf der einen und den beiden deutschen Staaten auf der anderen Seite geschlossen. Der Vertrag hat eine klare Kernaussage: Von Deutschland soll nur Frieden ausgehen. Doch eben das passiert schon längst nicht mehr, und seitdem Deutschland eine immer aggressivere Rolle beim Ukraine-Krieg eingenommen hat, wird in Russland ernsthaft daran gezweifelt, dass die Voraussetzungen für den Vertrag noch erfüllt sind. 

Alles Lügner, außer Deutschland!

Wie gesagt: „Deutschland setzt sich für das Völkerrecht ein.“ Politik und Medien werden nicht müde, diesen Satz immer und immer wieder zu wiederholen. Doch inhaltlich wird er nicht unterfüttert.

– Deutschland unterstützt ein zutiefst korruptes und in Teilen faschistisches System in der Ukraine 

– Deutschland steht Seit‘ an Seit‘ mit einem möglicherweise offen faschistischen System in Israel

– Deutschland liefert Waffen an autoritäre, korrupte und faschistische Regierungen 

– Deutschland stellt die zutiefst imperiale und höchst kriegerische Außenpolitik der Vereinigten Staaten nicht in Frage und folgt ihr bedenken- und gewissenlos

– Deutschland verweigert Ländern die politische Anerkennung, wenn diese nicht die geforderte Agenda verfolgen

– Deutschland beteiligt sich aktiv an Versuchen von Regime Changes, jüngst in Georgien, wo Politiker wie Michael Roth (SPD) ganz offen den Umsturz der Regierung propagieren 

– Deutschland verurteilt andere Länder und Politiker für Taten, ohne jegliche Beweise dafür vorzulegen

Eine besondere Rolle bei der Einordnung Deutschlands spielt die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines. Sie ist sowohl innen- als auch außenpolitisch herausragend, weil zuvor der Erpressung durch die USA nachgegeben wurde, kein weiteres Erdgas aus Russland zu beziehen. Und weil, dadurch bedingt, die wirtschaftliche Lage Deutschlands eine verheerende Entwicklung genommen hat. Außenpolitisch hat sich Deutschland weltweit in eine fast vollständige Isolierung begeben, was auch damit zusammenhängt, dass sich die politische und juristische Führung des Landes bis zum heutigen Tage einer Aufklärung des Terroranschlags auf die Energieversorgung verweigert. 

Innenpolitisch zeigt die politische Führung in Deutschland, dass sie das, wofür sie gewählt wurde, schlicht unterlässt, nämlich Schaden vom Volk abzuwenden und den Wohlstand zu mehren. 

Doch das mit Abstand Schlimmste liegt in der Tatsache begründet, dass es deutschen Politikern an jeglichem Unrechtsbewusstsein fehlt. Man ist sich keiner Schuld bewusst, und im Falle der russischen Diskussionen über den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ und der deutschen Reaktion darauf ist es die Kombination aus Geschichtsvergessenheit einerseits und aktueller Realitätsverweigerung andererseits, die die Rolle des Landes einfach nur schäbig erscheinen lässt.

Faktenfüchse auf der Jagd

Im März 2024 machten in den sozialen Medien Berichte die Runde, die deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine als dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ widersprechend bezeichneten. Und tatsächlich wurde dieses Thema auch in Russland diskutiert. Das Interessante aber ist die deutsche Reaktion auf die Möglichkeit, gegen den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ zu verstoßen. 

Sofort waren Faktenfüchse und ähnliche „Volksaufklärer“ zur Stelle, um den Beweis anzutreten, dass Deutschland nicht gegen den Vertrag verstoße. Als Grund wurde das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine angegeben, das es Deutschland erlaube, dieses Recht durch Waffenlieferungen seinerseits zu unterstützen. Das kann man so sehen, doch dabei handelt es sich um eine Verkürzung der Sachlage. 

Die Seite „Mimikama“ hat einen Frage-Antwort-Katalog zusammengestellt, in dem es unter anderem heißt: 

Frage 2: Was sagt der Zwei-plus-Vier-Vertrag zu Waffenlieferungen?Antwort 2: Der Vertrag selbst enthält keine expliziten Bestimmungen, die Deutschland von Waffenlieferungen abhalten. Er betont die Verpflichtung zum Frieden und zur Einhaltung der UN-Charta.“ 

Nun ist es aber genau das, was die Russen umtreibt: die Verpflichtung zum Frieden und zur Einhaltung der UN-Charta. Die Tatsache, dass in Deutschland inzwischen der Orwellsche Satz „Krieg ist Frieden“ gilt, macht es deutschen Politikern zwar leicht, in die Republik zu posaunen, dass Frieden mit Waffen geschaffen werde. Doch so trivial ist die Sache nun auch wieder nicht. 

Die UN-Charta: Nach Belieben missbraucht

Aus russischer Perspektive ist es nicht primär bedeutsam, ob und wie in Deutschland die UN-Charta mit Füßen getreten wird. Im Vordergrund steht die Pflicht Deutschlands zum Frieden. Und die ist nicht nur im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ festgehalten, sondern auch im Grundgesetz, das auch in Russland durchaus nicht unbekannt ist. 

Im Übrigen wird die UN-Charta durch den Westen nach Lust und Laune interpretiert oder wahlweise ignoriert. Tatsächlich war der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 nicht vom Völkerrecht gedeckt. Doch geflissentlich ausgeblendet wird in deutschen Medien und von den üblichen Verdächtigen aus der Politik ein weiteres Element der Charta: Wenn die Gefahr eines Krieges besteht, ist unverzüglich alles in die Wege zu leiten, um dieser entgegenzutreten. Dies ist nachweislich nicht passiert, im Gegenteil, den wiederholten Bitten, Aufforderungen und Warnungen Putins hinsichtlich der Ukraine-Frage wurde mit unverschämter Arroganz und Ignoranz begegnet. Putin hatte ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine eine der berühmt-berüchtigten roten Linien ist, die nicht überschritten werden dürfen. Der Westen – und insbesondere die USA – hatten darauf sogar mit der provokanten Aussage reagiert, dass Russland in dieser Sache nichts zu sagen habe und man mit der Ukraine verfahre, wie es beliebe. Ein ganz klarer Bruch der UN-Charta.

Und noch etwas schreibt die Charta vor: Wenn das eingetreten ist, was es mit allen Mitteln zu verhindern galt, also der Ausbruch des Krieges, sind alle Parteien angehalten, diesen so schnell wie möglich wieder zu beenden, was wiederum in aller Regel sofortige Gespräche und Verhandlungen bedeutet, inklusive einer baldigen Waffenruhe. Wir wissen, dass es kurz nach dem Beginn des Krieges genau diese Möglichkeit gegeben hätte, und wir wissen, dass es der Westen – konkret Großbritannien – war, der dieses vorzeitige Ende des Krieges aktiv und bewusst verhindert hat. Die Botschaft an Selenskyj war klar: Wir wollen, dass der Krieg fortgeführt wird, brich also diese Verhandlungen sofort ab!

Was Selenskyj dann auch brav tat. Kaum überraschen kann aber in diesem Zusammenhang die Vehemenz, mit der Selenskyj in der Folge weitere Waffenlieferungen forderte. Er bat nicht darum, er forderte, fast befahl er. Wenn man bedenkt, dass er gemeinsam mit den Verhandlungspartnern kurz vor einem Ende des Krieges stand, ist seine Heftigkeit also nachvollziehbar, nach dem Motto: Ihr wolltet, dass der Krieg weitergeht, dann liefert jetzt gefälligst auch die Waffen, die dafür notwendig sind. 

Der Jugoslawien-Krieg: Tritt in die Magengrube der Friedenspflicht

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist in Russland von herausragender Bedeutung. Doch auch das Jahr 1999 spielt in der russischen Wahrnehmung eine wichtige Rolle, nicht nur wegen der Verbundenheit mit Serbien. Als die NATO am 24. März 1999 begann, Jugoslawien zu bombardieren, hatte sie dafür kein UN-Mandat, dafür aber haufenweise fadenscheinige Argumente, die auf offenkundigen Lügen basierten. 

Deutschland war mittendrin und lieferte mit seiner Beteiligung den ersten Kriegseinsatz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Den Russen in schmerzlicher Erinnerung ist unter anderem die serbische Provinz Kosovo, wo westliche Staaten die albanische UÇK unterstützten, die unter anderem Terroranschläge auf serbische Polizeistationen verübte. 

Joschka Fischer ging auf unrühmliche Weise in die Geschichte ein, als er sagte, man müsse ein „neues Auschwitz“ verhindern. Was nicht verhindert wurde, war der Tod von ca. 15.000 Menschen, die den NATO-Bombardements zum Opfer fielen. Gutes hatte dieser Krieg nicht, und er sollte eigentlich eine Mahnung dafür sein, dass mit militärischem Eingreifen keine Konflikte gelöst, sondern nur neue geschaffen werden. 

Die heutige Lage rund um den Ukraine-Krieg ist noch brisanter als sie damals im Jugoslawien-Krieg war, denn der Westen eskaliert in einer noch nie dagewesenen Art und Weise. Einmal mehr beweisen der Westen und die NATO – unter willfähriger Beteiligung Deutschlands – dass Begriffe wie eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur nichts als hohle Phrasen sind. Dabei zeigt sich insbesondere Deutschland als Land der Großmannssucht, und ausgerechnet dieses Attribut wollte man in Russland den Deutschen nicht mehr zuschreiben. Doch die wiederholten Versuche, den Deutschen die Hand zu reichen, wurden regelmäßig ausgeschlagen. 

Und während Russland über Jahrzehnte fast schon bettelnd Friedensangebote gemacht hat, lässt Deutschland seine Friedenspflicht, die sowohl im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ als auch im Grundgesetz niedergeschrieben ist, beiläufig in die historische Mülltonne fallen. 

Kopfschütteln in Russland

In Russland nimmt man nicht nur die politischen Entscheidungen in Deutschland mit Kopfschütteln oder Empörung wahr. Man sieht auch die mediale Berichterstattung mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut. Die Russen konsumieren oft und gern westliche Medien, was nicht immer gut für ihre Gemütsverfassung ist. Und gar nicht so selten erliegen Russen der westlichen Erzählung. Erst kürzlich äußerte eine russische Studentin in einem Gespräch mit dem Autor dieses Textes, dass sie Alexey Nawalny als einen Kämpfer für die Meinungsfreiheit wahrgenommen habe. 

Doch die überwältigende Mehrheit der Russen ist insbesondere mit der russischen Regierung und ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg mehr als einverstanden. Das hängt nicht nur mit den oberflächlichen Erzählungen des Westens zusammen, die in Russland durchschaut werden. Es liegt eben auch an der Verbundenheit vieler Russen zur Ukraine, genauer: zur Ost-Ukraine. Und dann sind da ja immer noch die historischen Zusammenhänge, die zu einem ganz besonderen Verhältnis von Russland und der Ukraine beigetragen haben. 

Deutschlands Friedenspflicht schwebt auf der politischen Ebene über all dem, was aus Russland heraus im Westen und ganz besonders in Deutschland beobachtet wird. Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ wird in politischen Kreisen Russlands heute gar nicht mehr ernstgenommen, man argumentiert, dass im Laufe der Jahrzehnte ohnehin fast alle friedenssichernden Verträge durch den Westen gekündigt wurden, und ob Deutschland noch Vertragspartner ist oder nicht, ändere ja an der geopolitischen Praxis auch nichts. 

Dennoch: Das Thema ist in Russland nicht vom Tisch. Und unabhängig davon, welche rechtlichen oder vertraglichen Konsequenzen sich aus einer Kündigung durch Russland ergeben würden, steht doch fest, dass eine solche Kündigung weltweit Auswirkungen haben würde. Nahezu alle Länder dieser Erde würden sich zu Russlands Entscheidung verhalten, und man muss kein Genie sein, um zu erahnen, dass Deutschland in dieser Geschichte keine gute Rolle spielen würde, schließlich ist das Land schon heute auf der Welt in vielen Gebieten abgeschrieben oder wird nicht mehr ernstgenommen.  

Der mediale Umgang mit dieser Friedenspflicht Deutschlands und der plumpe Versuch, den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ auf eine neue Weise zu interpretieren, die aus der Friedenspflicht eine Kriegsrechtfertigung macht, ist armselig und aus russischer Sicht – zu Recht! – eine grobe Geschichtsvergessenheit. Wer sich da noch über die Trophäenaustellung in Moskau mit erbeutetem westlichen Kriegsgerät wundert, hat nichts begriffen. Denn auch wenn die Deutschen sich darin üben und dabei durchaus „erfolgreich“ sind – für die Russen ist das Vergessen keine Option. 

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen. 

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