Patrik Baab reiste mit seinem Kameramann Artur Leier zweieinhalb Wochen durch Städte und Orte in dem Teil des Donbass, über den Russland die Kontrolle ausübt. Vor dem Rückflug nach Deutschland führte Ulrich Heyden in Moskau mit Baab ein Interview über die wichtigsten Eindrücke der Reise in das Kriegsgebiet Donbass.
Ein Interview von Ulrich Heyden mit Patrik Baab.
Was war das Wichtigste, was Sie im Donbass erlebt haben?
Das letzte Mal war ich im Herbst 2022 im Donbass. Wir waren in Melitopol, Mariupol, Donezk und Lugansk. Und ich habe ein vom Krieg zerstörtes Land gesehen. Mariupol war zu 80 Prozent zerstört. Zum Teil haben die Leute noch in den Kellern gelebt. Die Versorgung war schwierig. Wir sind durch verminte Gebiete gefahren. Vieles war noch nicht geräumt. Wir kamen selbst unter Beschuss. Die Stadt Donezk lag beständig unter Beschuss. Das habe ich vom Hotelfenster aus gesehen.
Zwei Jahre später, in diesem Herbst, bin ich in eine veränderte Welt gekommen. Die wichtigste Beobachtung ist, dass die Russische Föderation diese Gebiete restrukturiert und wieder aufbaut. Überall sind bereits jetzt die Haupt-Magistralen, die Verkehrslinien, neu asphaltiert und zum Teil vierspurig ausgebaut worden, sodass der Verkehr zwischen den Städten wieder am Rollen ist. Die Nebenstraßen natürlich noch nicht. Da liegt noch vieles im Argen.
Die Stadt Mariupol ist ein Brennpunkt der Investitionen. Ganze Stadtviertel werden neu errichtet. Für Zehntausende wird neuer Wohnraum geschaffen. In den alten Chrutschowka-Wohnblöcken, die da noch stehen, sind überall schon neue Fenster drin, soweit es die Möglichkeiten zulassen. Die Geschäfte haben geöffnet, das öffentliche Leben ist zurückgekehrt. Insbesondere auch die Kindergärten arbeiten wieder.
Die Schulen sind, soweit ich das beobachten konnte, alle bereits saniert oder neu errichtet. Nach meinen Informationen investiert die Russische Föderation Milliarden im Donbass. Und das sage ich auch, weil man das im Westen nicht hören will und weil Reporter vom ZDF – wie Armin Coerper – deswegen Schwierigkeiten bekommen haben.
Die Russische Föderation scheint den Donbass auf- und ausbauen zu wollen als Schaufenster zum Westen. Und das ist natürlich ein politisches Signal.
Haben Sie viele Menschen auf den Straßen gesehen? Waren die Schulen in Betrieb?
Die Schulen waren vollumfänglich in Betrieb. Ich habe mit Lehrerinnen gesprochen, die sich insbesondere mit traumatisierten Kindern beschäftigen. Sie haben geschildert, wie sie das machen und wie die Räume hergerichtet werden.
Ich habe mit Anwohnern gesprochen, die ich bereits vor zwei Jahren kennenlernen durfte. Man wird das im Westen nicht glauben, aber sie haben sich trotz der Verheerungen, die auch die russische Armee in dieser Stadt angerichtet hat, unter Tränen bei Putin bedankt für die Wiedereingliederung des Donbass und für die Arbeit, die er hier machen lässt. Das hat mit Propaganda nichts zu tun. Die sagen wirklich, ´wir fühlen uns hier befreit´.
Von was befreit?
Befreit insbesondere von einem ukrainischen Regime, das sie abgelehnt haben. Fast alle Menschen, die ich getroffen habe, berichteten, wie sie von der Putschregierung in Kiew und den Regierungen, die ihr folgten, und den militärischen Kräften Kiews seit 2014 drangsaliert worden sind, wie sie geschlagen worden sind, wie sie gedemütigt wurden, wie sie ins Gefängnis kamen. Das hätte ich in dieser Form nicht erwartet. Das, was in Odessa am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus geschehen ist (wo am 2. Mai 2014 nach einem Angriff von Nationalisten 42 Menschen umkamen), das ist kein Einzelfall.
Ich habe hier durchgängig Menschen getroffen, die sich der Russischen Föderation zugehörig fühlen und die mir erklärt haben, ´wir sind befreit worden. Wir wollen nicht die Ukraine zurück´. Und dabei spielen auch einfache Faktoren eine Rolle. Durch die Investitionen in Millarden-Höhe werden Arbeitsplätze geschaffen. Ich habe einen jungen Mann getroffen, der gar kein Problem hatte, eine Arbeit als Bauingenieur zu finden. Und ich habe mit Rentnern gesprochen, die sagten, ´es geht mir besser heute´. Die Russische Föderation hat die Renten um das 1,5-Fache erhöht. Das sind natürlich Maßnahmen, die durchgeführt werden, um Loyalität gegenüber Moskau zu organisieren. Und das sind natürlich auch Maßnahmen, die eine Ansage an die NATO sind. ´Wir sind gekommen, um zu bleiben.´
Als ich im Herbst 2022 in Donezk war, hatten alle Schulen und Kindergärten geschlossen. Die Kinder mussten zuhause lernen. Wie sieht das heute aus?
Die Stadt Donezk liegt noch immer unter Beschuss. Aber der Beschuss ist deutlich geringer geworden. Er hat sich im Augenblick zurückgezogen in die nördlichen Randgebiete der Stadt. Das öffentliche Leben ist in die Stadt zurückgekehrt. Ich habe vor zwei Jahren eine tote, der Öffentlichkeit abgewandte Stadt kennengelernt. Es gab überall Sandsäcke, die Schaufenster waren verrammelt. Niemand, der es vermeiden konnte, war auf der Straße. Die Kinder in Donezk gehen wohl noch nicht zur Schule, sondern lernen zuhause. Aber das öffentliche Leben ist auf die Straßen, in die Kindergärten und die Universität zurückgekehrt. Cafés haben geöffnet, Leute gehen Einkaufen, die Supermärkte und Tankstellen haben geöffnet. Die Banken haben aufgemacht. Es gibt aber von abends um zehn bis morgens um vier immer noch eine nächtliche Sperrstunde. Aber man spürt geradezu, dass die Menschen sich nach einem Stückchen Frieden sehnen. Es hat den Anschein von Normalität, obwohl der Krieg von Donezk nur 50 Kilometer entfernt ist.
Waren Sie auch an der Front?
Wir waren auch im Frontbereich in Saporoschje am Dnjepr. Darüber möchte ich noch nichts sagen, weil ich das noch im Einzelnen auswerten muss. Wir waren in kritischen Bereichen unterwegs. Wir sind zum Teil nachts gefahren. Die Handys waren ausgeschaltet, damit wir nicht geortet werden können. Wir haben privat an Orten übernachtet, die ich hier nicht darstellen mag. Natürlich übernachtet man unter schwierigen Umständen. Komfort gibt es nicht. Man hat auch nicht immer eine Waschgelegenheit. Und man hat tagelang immer die gleichen Klamotten an. Aber das sind die Bedingungen, unter denen hier gearbeitet wird.
Waren Sie in akuter Gefahr?
Wir waren in einer Region um die Stadt Berdjansk, wo man unmittelbar dem Beschuss ausgesetzt ist. Es waren Explosionen zu hören und man hat auch die russische Luftabwehr gehört.
Es waren sternenklare Nächte. Wir haben die Starlink-Satelliten vor den Sternzeichen des Südens gesehen, weil die fliegen etwas schneller. Und wir haben die Drohnen gesehen, die wie Sternschnuppen niedergingen, wenn sie abgeschossen worden waren.
Mit was für einem Gefühl fahren Sie nach Deutschland zurück?
Ich fahre mit einem Gefühl zurück, dass mir viele Menschen meine Beobachtungen nicht glauben werden, weil dem die volle Wucht der Propagandapresse, die uns weiter in diesen Krieg hineintreibt, entgegensteht. Aber die Menschen in Deutschland sollten sich besinnen. Ich denke an die Vielen, die bereits hier im Donbass, in der Ukraine, getötet worden sind. Wir haben die Zahl der 500.000 Toten bei weitem schon überschritten. Hier habe ich überall gehört, ´wir wollen, dass der Frieden zurückkehrt´. Und vielleicht sollten die Menschen in Deutschland auch einmal daran denken, dass es wenig sinnvoll ist, sich immer tiefer in einen Krieg hineinziehen zu lassen, in dem wir nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren haben.
War Deutschland auf Ihrer Reise irgendwie präsent, in Form von Waffen oder Fragen, die man Ihnen stellte?
Im Unterschied zu Deutschland, wo die Russen-Feindlichkeit allgegenwärtig ist, ist mir im Donbass keine Deutschen-Feindlichkeit begegnet, obwohl die Menschen wissen, dass heute wieder deutsche Panzer im Donbass rollen, nach einem fürchterlichen deutschen Angriffskrieg mit 27 Millionen toten Sowjetbürgern. Wir wurden aufgenommen von Familien und es standen immer Tee, Kuchen oder ein Schnitzel auf dem Tisch.
Wie stehen die Menschen im Donbass zu den Menschen in der Ukraine?
Ich habe die Familie eines Soldaten aufgesucht, der im Herbst 2022 gefallen ist und mit dem ich zwei Monate zuvor ein Interview geführt habe. Er hieß Jefgeni. Seine Angehörigen sagten mit Blick auf die Soldaten der Ukraine, ´dieser Krieg wurde uns hier im Donbass aufgezwungen. Aber die Menschen in der Ukraine und die Soldaten können ja nichts dafür. Es ist die Führung, es ist die NATO, die die Menschen in diesen Krieg treibt.´ Das Gefühl, das man den Menschen im Westen der Ukraine – wie übrigens auch uns Deutschen – entgegenbringt, das ist Mitleid, dass wir das alles so hinnehmen, was die Politik mit uns macht.
Von den deutschen Fernsehanstalten wird die Meinung verbreitet, man könne im Donbass nur unter strengster Kontrolle russischer Militärs arbeiten. Somit hätte man keine Möglichkeit, als Journalist zu arbeiten. Was sagen Sie dazu?
Das ist nicht richtig. Wir konnten uns völlig unabhängig bewegen. Wir konnten unsere Gespräche führen, so wie wir wollten. Es hat niemand reingeredet. Wir wurden nicht beeinflusst und wir wurden nicht eingeengt bei unserer Tätigkeit. Wir standen nicht unter Beobachtung. Wir hatten auch keine örtlichen Begleiter. Aber wir sind bisher dreimal hintereinander „filtriert“ worden, mit allen Schikanen. Das bedeutet: Der Pass und das Handy werden eingezogen. Das Handy wird ausgelesen. Der Pass wird fotografiert. Es wird ein Bericht geschrieben. Man wartet eine Stunde, man wird reingerufen. Man wird einem Verhör unterzogen und wieder rausgeschickt. Man wird wieder einem Verhör unterzogen und wieder rausgeschickt. Dann ein drittes Mal. Es geht höflich und freundlich zu. Bis hin zu Fragen wie, ´was wollen Sie hier, ist das nicht gefährlich, wie heißen Ihre Bücher, schreiben Sie das hier mal auf, das müssen wir festhalten.´
Vor allem setzt man auf Zermürbungstaktik. Wir zeigen dem Burschen aus Deutschland mal, dass er hier nicht allzu beliebt ist. Denn die russischen Behörden betrachten Deutschland als einen Feindstaat. Das muss man wissen. Auf mich wirkte es so, als ob man den Vorgesetzten im Innenministerium klarmachen will, dass man die Tätigkeit ernst nimmt und sich den Jungen da mal ein bisschen genauer anschaut.
Wie haben Sie die Reise in den Donbass bezahlt? Das ist ja ein ziemlich aufwändiges Projekt.
Alles kostet. Flüge, Taxis, Fahrzeuge, Verbindungsleute, Übernachtungen, Kontaktpersonen. Allen muss man etwas geben oder sie zumindest mal zum Essen einladen. Solche Reisen kosten vier-, wenn nicht fünfstellige Beträge. Diese Recherchereisen zahle ich in vollem Umfang selbst. Es gibt keine Zuwendungen von Dritten. Ich muss das natürlich refinanzieren über die Tantiemen meiner Bücher. Und es gibt Rücklagen.
Sie haben auch keinen Spendenaufruf gemacht?
Nein. Ich möchte ja unabhängig arbeiten. Wenn ich das Geld nicht habe, dann reise ich nicht.
Ihr Ukraine-Buch „Auf beiden Seiten der Front“, das 2023 erschien, wurde jetzt ins Russische übersetzt. Was war Ihre Motivation, das Buch ins Russische zu übersetzen?
Das war nicht einmal meine Idee, sondern die Idee einer Freundin, die den Kontakt zu dem Verleger Oleg Nikiforow hergestellt hat. Ich möchte mit den Menschen in Russland im Gespräch bleiben. Denn ich bin einmal vor vielen Jahren in die SPD eingetreten, weil ich überzeugt bin von dem Satz von Willy Brandt, Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Dieses Interview erschein erstmals bei den NachDenkSeiten.
Patrik Baab, Jahrgang 1959, ist ein deutscher Journalist, Politikwissenschaftler und Publizist. Seine Reportagen und Recherchen über Geheimdienste und Kriege passen nicht zur Propaganda von Staaten und Konzernmedien. Er berichtete u.a. aus Russland, Großbritannien, dem Balkan, Polen, dem Baltikum und Afghanistan. In Russland machte er mehrfach Bekanntschaft mit dem Inlandsgeheimdienst FSB. Auch die Staatsschutzabteilung des Bundesinnenministeriums führt eine Akte über ihn. Im Westend Verlag publizierte er Im Spinnennetz der Geheimdienste. Warum wurden Olof Palme, Uwe Barschel und William Colby ermordet? (2017) und Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung (2022). Seine Homepage findet sich unter https://patrikbaab.de
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