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„Moral kann niemals Analyse ersetzen“ – Russland-Expertin Krone-Schmalz über den Ukraine-Krieg

Stehende Ovationen für eine Russland-Versteherin: Gabriele Krone-Schmalz spricht über die Rolle der deutschen Politik und der Medien in einem Vortrag Nähe Berlin. Für eine tragfähige Lösung ist aus Sicht der Journalistin unabdingbar, die Vorgeschichte des Konflikts und die jeweiligen Interessen zu kennen. Frieden sei kein Selbstläufer, sondern harte Arbeit, nach innen wie außen, sagte sie.

Ein Beitrag von Éva Péli 

Éva Péli<br>
Bild: Éva Péli

„Natürlich plädiere ich nicht für eine Politik ohne Moral, ganz im Gegenteil. Aber für mich zeichnet sich moralische Außenpolitik zum Beispiel dadurch aus, dass man die Dinge bis zum Ende denkt und dass man das Wohlergehen von Menschen ganz konkret im Blick hat und nicht das mustergültige Befolgen abstrakter Prinzipien, nach denen man sich selber richtet.“ Das sagte ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD Gabriele Krone-Schmalz kürzlich in einem Vortrag. Mehr als 260 Menschen waren nach Schönwalde Glien im Havelland gekommen, um die langjährige Journalistin, Publizistin und „Russland-Versteherin“ zu hören und zu sehen. Nach deren Vortrag über „Russland – und wie weiter?“ bedankten sie sich stehend mit viel Beifall für Aussagen, die heutzutage selten zu hören sind.

Mit ihren Büchern und in ihren Vorträgen klärt die Journalistin mit der nicht verwechselbaren Frisur über die Zusammenhänge auf und versucht, für mehr Verstehen und Erklären zu sorgen. Dabei weist sie daraufhin, „dass man etwas verstehen muss im Sinne von begreifen, bevor man zu einer tragfähigen Entscheidung kommen kann“. Und, „dass Verstehen nicht automatisch Verständnis haben bedeutet“. Diese Erkenntnis scheine „offenbar schon eine ganze Weile abhandengekommen zu sein“, sagte sie.

„Wie sonst ist es zu erklären, dass solche Begriffe wie Russland-Versteher oder Putin-Versteher heutzutage dazu führen, dass jemand für undiskutabel gehalten wird?“, fragte sie. Und machte außerdem auf den Unterschied zwischen erklären und rechtfertigen aufmerksam, was derzeit immer wieder vermischt werde. „Erklärungen stellen für sich genommen einen Wert dar und sollten nicht zur Unterkategorie von Rechtfertigung degradiert werden. Das vergiftet jede inhaltliche Auseinandersetzung und führt zu völlig unnötiger Polarisierung, die sich dann weniger an Fakten als an Personen abarbeitet und dadurch zwangsläufig in der Sache zu nichts führt.“

Verfolgt Russland imperialistische Ziele?

Die Grundsatzfrage lautet aus Sicht von Krone-Schmalz: „Verfolgt Russland imperialistische Ziele?“ Dazu gehöre auch die von warnenden Experten gestellte Frage, „bis wann die Russen in Berlin stehen, bevor sie sich in oder nachdem sie sich Polen und die baltischen Staaten einverleibt haben“. Und: „Oder ging und geht es Russland um eine funktionierende Sicherheitsarchitektur, die Russland miteinschließt?“ Es gelte, darauf eine faktenbasierte Antwort zu geben, „nicht getrübt durch eine ideologisierende oder moralisierende Brille“.

Für eine solche Antwort müsse zuerst den jeweiligen Interessen auf den Grund gegangen werden, betonte die Journalistin. Sie habe vor dem Krieg in der Ukraine russische Interessen so beschrieben: Ruhe im Inneren und an den Grenzen, um den komplizierten Umgestaltungsprozess, der ja längst nicht abgeschlossen ist, weiter zu führen. Ebenso sei es Moskau um Austausch und Zusammenarbeit mit dem Ausland gegangen, um sich weiterzuentwickeln. Zu den Interessen gehörten zudem Akzeptanz und Sicherheitsgarantien des Westens, um sich auf die inneren Aufgaben konzentrieren zu können.

Zur tragfähigen Lösung – die Vorgeschichte kennen

„Das heißt, ein Krieg macht vor diesem Hintergrund überhaupt keinen Sinn“, stellte Krone-Schmalz fest und fragte „Warum also der Überfall auf die Ukraine?“ Wenn es ein angeblich lang gehegter Plan gewesen sei, hätte Russland die Ukraine „sinnvollerweise vor acht oder zehn Jahren überfallen“. Damals sei die Ukraine „wesentlich verwundbarer“ gewesen, als nach der massiven Aufrüstung mit westlicher Hilfe ab 2014. Sie betonte, dass es wichtig sei, die Chronologien und Vorgeschichte von Ereignissen zu kennen, um die Realität begreifen zu können. Und das sei notwendig, „wenn man an einer tragfähigen Lösung für die Zukunft ernsthaft interessiert ist.“

Die notwendige Analyse könne nicht durch Moral ersetzt werden, stellte sie klar, bevor sie die Entwicklung bis zum 22. Februar 2022 nachvollzog. Die Journalistin erinnerte daran, dass in der Ostukraine seit 2014 Krieg ist, nachdem die Verwaltungsbezirke (Oblaste) Donezk und Lugansk der neuen per Staatsreich an die Macht gekommenen Kiewer Führung die Gefolgschaft verweigerten und Autonomie forderten. Der Ausgangpunkt sei innerukrainisch gewesen, weil Kiew seitdem versucht, die Gebiete militärisch zurückzuerobern. Dabei werde bis heute von einer „Antiterror-Operation“ gesprochen, machte Krone-Schmalz aufmerksam. Diese semantischen Feinheiten seien wichtig, sagte sie und verwies auf die Aussage von Kanzler Olaf Scholz, der unlängst den Krieg der USA am Hindukusch als „amerikanisches Engagement in Afghanistan“ schöngeredet habe. „Engagement hört sich ja noch besser an als Spezialoperation.“

Das Leid der Menschen in der Ostukraine seit 2014 sei vom politischen Westen „eher nicht wahrgenommen“ worden, trotz der etwa 14.000 getöteten Zivilisten dort bis 2022. „In Donezk steht seit dem 1. Juni 2017 ein Denkmal für Kinder, die Opfer von Bombardements geworden sind. Auf dem fast 200 Namen stehen.“ Krone-Schmalz erinnerte ebenso an das Dekret von Präsident Wolodymyr Selenskyj von 2021, die Krim und den Donbass zurückzuerobern, sowie an den Aufmarsch ukrainischer Truppen an der Grenze zu den beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Gleichzeitig sei Kiew in die Zukunftsplanung der Nato einbezogen worden und es habe eine ganze Reihe Manöver der Nato sowie US-Aufklärungsaktivitäten an der ukrainisch-russischen Grenze gegeben. An dieser seien seit 2014 zudem CIA-Basen aufgebaut worden, wie die US-Zeitung New York Times berichtet habe.

Wessen Interessen zählen

Das sei selbst von dem US-Blatt zu den Gründen dafür gezählt worden, dass sich Moskau im Februar 2022 zum Einmarsch in die Ukraine entschied. Die russische Führung habe befürchtet, dass die westlichen Geheimdienste die Ukraine zum Sprungbrett für Operationen gegen Russland ausbauen. „Die Vorgeschichte des russischen Einmarsches stellte in mehrfacher Hinsicht aus russischer Perspektive eine Bedrohung für Russland dar, schon gar, weil fast alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge nicht mehr gelten, die in der Vergangenheit dafür gesorgt haben, dass sich die Unterzeichner wenigstens halbwegs sicher fühlen konnten. Und es waren die USA, die diese Verträge einen nach dem anderen gekündigt haben.“

Doch so etwas werde schnell als „Verschwörungstheorie“ abgetan, beklagte die Journalistin, die auch klarstellte, dass der russische Einmarsch aus ihrer Sicht völkerrechtswidrig war. Sie verwies in ihrem Vortrag auch auf die Verhandlungen im Frühjahr 2022 zwischen Kiew und Moskau, um den Konflikt zu entschärfen. Diese seien aus Sicht der Ukraine auch erfolgreich verlaufen, doch dann von Kiew gestoppt worden. Zu den Gründen dafür zählt laut Krone-Schmalz, dass auf dem Nato-Gipfel am 24. März 2022 in Brüssel „schlicht festgelegt wurde, die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nicht zu unterstützen“. Einen Monat später habe der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei seinem Besuch in Kiew erklärt, es gehe darum, „Russland durch diesen Krieg auf Dauer militärisch und wirtschaftlich zu schwächen.“ Zudem habe der britische Premier Boris Johnson bei seinem Blitzbesuch am 9. April des Jahres in Kiew erklärt, dass ein Kriegsende nicht im westlichen Interesse liege.

Diplomatie ist das Kerngeschäft der Politik

Die Journalistin sagte, die ukrainisch-russischen Verhandlungen im Frühjahr 2022 seien nicht wegen der angeblichen russischen Kriegsverbrechen in Butscha nahe Kiew gescheitert, „sondern am Willen der westlichen Staatengemeinschaft“. Sie kritisierte deutlich die deutsche Politik, einschließlich der Debatte um die Lieferung von Marschflugkörpern „Taurus“ an Kiew. Es sei „perfide“, dass der „Begriff Verantwortung automatisch mit Waffenlieferung und Kriegsbereitschaft gleichsetzt“ werde. Stattdessen könne mehr Verantwortung zu übernehmen auch heißen, Verhandlungen anzustoßen und einen Friedensplan zu entwickeln. „Diplomatie ist das Kerngeschäft von Politik“, erinnerte Krone-Schmalz und fügte hinzu: „Waffenlieferungen sind eher eine Bankrotterklärung desselben.“ Sie warf der deutschen Regierung vor, den eigenen Amtseid zu verletzen, der sie verpflichte, das Wohlergehen des eigenen Landes zu sichern. Das geschehe durch die Waffenlieferungen ebenso wie durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten, was Deutschland zur Kriegspartei mache

Ebenso erinnerte sie an das Friedensgebot des Grundgesetzes und vermisste die notwendige gesellschaftliche Debatte um diese Fragen. Sie halte das für einen „systemgefährdenden Fehler“, „denn es führt zur Aushöhlung demokratischen Denkens. Und das sollten wir uns in Deutschland nach unserer Vorgeschichte nicht leisten.“ Die Russland-Expertin sprach sich auch dafür aus, zu versuchen, die Ukraine zu verstehen: „Und auch hier ist Verstehen nicht mit Verständnis haben identisch beziehungsweise umgekehrt.“ Und fügte hinzu: „Wer so vehement uneingeschränktes Verständnis und ebensolche Unterstützung für die Ukraine äußert, eine Art unkritischer Fankultur betreibt, hat die Ukraine vielleicht gar nicht richtig verstanden.“

Der Politikwissenschaftler Nicolai Petro habe in seinem Buch „The Tragedy of Ukraine“ (2023) deutlich gemacht, dass der Streit um die ukrainische Identität nicht erst mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 begann. Dieser sei dagegen bereits rund 150 Jahre alt und werde zwischen dem Westen und dem Osten und Süden des Landes ausgetragen. „Und dieser Streit ist auch nie wirklich beigelegt worden“, sagte Krone-Schmalz und wies auf die dramatische Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert hin. „Der grundlegende ukrainische Fehler besteht meines Erachtens darin, diesem Gebilde, dem eine staatliche Kontinuität fehlt, keine föderale Struktur gegeben zu haben und auch weiterhin nicht geben zu wollen.“ Das sei vor allem durch westukrainische Kräfte immer wieder verhindert worden.

Schieflage von Berichterstattung mit katastrophalen Auswirkungen

In ihrem Vortrag erklärte sie außerdem, dass Putins Aussage über den Zerfall der Sowjetunion als „die größte Katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ nicht bedeute, dass er diese wieder errichten wolle. Das beziehe sich „einzig und allein auf die katastrophalen Lebensbedingungen, die dieser Zerfall auf allen Ebenen für die Menschen mit sich gebracht hat und nicht auf irgendwelche ideologisch verbrämten Expansionsgelüste“. Und zitierte dazu Putin: „Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie sich zurückwünscht, keinen Verstand.“

Die Journalistin ging in ihrem Vortrag auf die bedrohte Meinungsfreiheit in der Europäischen Union, die Rolle der Sprache im Kampf gegen Propaganda und die Rolle der Medien ein. Sie machte auf die Schieflage von Berichterstattung aufmerksam, „wegen der katastrophalen Auswirkungen auf Krieg und Frieden“. Das geschehe durch die Orientierung auf Schlagzeilen zu Lasten von Kontexten und der Drang nach eindeutigen Aussagen statt komplexer Erklärungen. Das habe „nicht mehr viel mit kritischer Berichterstattung zu tun“, sondern sei „Stimmungsmache und lustvolles Drehen an Eskalationsschrauben“.

Gegen Ende ihres Vortrages zitierte sie die Philosophin Hannah Arendt, welche die Pluralität der Meinungen als „Motor der Demokratie“ bezeichnete. „Mündige Bürger sind in einer Demokratie systemrelevant“, fügte Krone-Schmalz hinzu. „Ein mündiger Bürger muss in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, zu wählen, die Konsequenzen seiner Entscheidung zu überblicken und dafür dann auch die Verantwortung übernehmen. Wenn das nicht der Fall ist, dann taugt die Demokratie nicht mehr. Die Voraussetzung dafür, fundierte Entscheidungen treffen zu können, ist, so umfassend wie möglich informiert zu sein, über Hintergründe Bescheid zu wissen, Zusammenhänge zu erkennen.“

„Jetzt sind Diplomaten gefragt“

Mit Blick auf Russland machte sie klar, dass wir weiter mit dem großen Land im Osten zu tun haben werden. Die Chance für ein gemeinsames europäisches Haus aus den 1990er Jahren sei vertan worden. Vertrauen wieder aufzubauen, sei eine „Kärnerarbeit“, stellte die Journalistin fest. Und fragte: „Wann dämmert es den Ukrainern endlich, dass sie auf dem Altar geopolitischer Interessen geopfert werden?“ Wer den Ukrainern wirklich helfen wolle, der müsse dafür sorgen, dass dieser Krieg beendet werde. „Jetzt sind Diplomaten gefragt. Wir brauchen politische Pläne. Militärische reichen nicht.“

Krone-Schmalz war bis zum Februar 2022 häufiger Gast in TV-Talkshows und bei Veranstaltungen. Nach dem russischen Einmarsch zog sie sich zuerst aus der Öffentlichkeit zurück. Seit einiger Zeit tritt sie wieder auf und spricht über den Krieg in der Ukraine. Zugleich ist sie vermehrt öffentlichen und medialen Angriffen ausgesetzt.

Disclaimer: Berlin 24/ 7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln.

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