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„Der 7. Oktober ist eine Folge von dem, was vorher passiert ist“ – Nahost-Expertin Karin Leukefeld

„Wie ist Frieden in Palästina möglich?“ – auf diese Frage hat die Journalistin Karin Leukefeld am Samstag in Berlin eine Antwort gesucht. In einem Vortrag in der Reihe „Denkraum“ im „Sprechsaal“ sprach sie über die Vorgeschichte des aktuellen Geschehens im Nahen Osten und die Akteure des Konfliktes.

Ein Bericht von Éva Péli

Éva Péli <br>
Bild: Éva Péli

Die langjährige Nahost-Korrespondentin beschrieb die geopolitischen Interessen im mehr als ein Jahrhundert andauernden Konflikt um Palästina, welcher die Region, das Land und seine Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt.

Leukefeld erinnerte daran, dass es dabei um einen Teil des sogenannten „fruchtbaren Halbmondes“ mit seinen jahrtausendealten Kulturen geht. Er habe als Wiege der europäischen Zivilisation eine wichtige Rolle in den vergangenen Jahrhunderten gespielt, betonte sie.

„Das wird heute komplett vergessen, wenn man über die Region spricht,“ betonte sie. Das aktuelle Geschehen im Gazastreifen, das Karin Leukefeld mit einem "Vernichtungsfeldzug" gleichsetzte, werde immer nur als Folge des Überfalls durch die palästinensische Organisation Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober 2023 dargestellt. „Aber tatsächlich ist der 7. Oktober eine Folge von dem, was vorher passiert ist“, meint Leukefeld.

Laut der Journalistin ist die aktuelle Lage in Palästina mehr als unübersichtlich. Den offiziell geschätzten 1.200 Toten durch die Ereignisse am 7. Oktober stehen inzwischen mehr als 34.000 offiziell gemeldete Todesopfer durch die israelische Armee im Gaza-Streifen gegenüber. Sie stellte fest: „Die Vernichtung des Gazastreifens ist heute unübersehbar.“

Die Nahost-Korrespondentin berichtete von einer der Folgen der europäischen und insbesondere deutschen Unterstützung für das massive militärische Vorgehen Israels: Brüssel und Berlin hätten massiv an Ansehen in der arabischen Welt verloren. Sie seien nicht mehr als Gesprächs- und Verhandlungspartner gefragt.

Die EU ist an Verbrechen beteiligt

Nach Ansicht von Karin Leukefeld sei die Europäische Union (EU) an Verbrechen gegen die Palästinenser beteiligt, weil sie unter anderem israelische Forschungen an Drohnen finanziell förderte, die im Gazastreifen eingesetzt werden. Die westlichen Staaten, allen voran die USA und Deutschland, seien die Hauptwaffenlieferanten Israels, das immer mehr Waffen bekomme. „Was wir im Gazastreifen sehen, ist auch eine Art Test von neuen militärischen Geräten und Waffen“, sagte Leukefeld.

An den Planungen der israelischen Armee, die auch die sogenannte Künstliche Intelligenz für die Zielerfassung einsetze, seien US-Militärs beteiligt. Zugleich würden die USA im UN-Sicherheitsrat alle Resolutionen für einen Waffenstillstand mit ihrem Veto boykottieren. Derzeit würden weltweit immer mehr Menschen gegen den von Israel im Gazastreifen geführten Krieg protestieren, zunehmend auch an US-Universitäten, bei denen die Demonstranten Israel Völkermord vorwerfen.

Die Region habe einst eine Brückenfunktion zwischen den Kontinenten und Ländern gehabt, so die Journalistin, und sei mit der alten Seidenstraße über Jahrhunderte wichtig für den Handel gewesen. Sie sprach auch von der zerstörerischen Rolle der westlichen Kolonialmächte, vor allem Großbritanniens nach dem Ende des Osmanischen Reiches in Folge des Ersten Weltkriegs.

Leukefeld erinnerte dabei an das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen, mit dem London und Paris 1916 den Nahen Osten aufteilten, ebenso wie an US-amerikanische Untersuchungen der King-Crane-Commission 1919. Deren Bericht zufolge haben Studien vor Ort Regelungen für die Region vorgeschlagen, die dieser ein anderes Gesicht als das heutige verliehen hätten: mit einem kurdischen Staat, einem syrisch-palästinensisch-jüdischen Staat, einem Staat Mesopotamien, einem armenischen Staat, einer Rumpf-Türkei – und ohne einen eigenständigen jüdischen Staat.

„A peace to end all peace“

Doch Paris und London hätten die US-Kommission nicht nur mit medialer Hetze begleitet und sie zu verhindern versucht. Der King-Crane-Report sei für die Pariser Friedensverhandlungen 1919 bestimmt gewesen, aber dort ignoriert worden, so Leukefeld. Damit habe sich die französisch-britische Teilung der Region, einschließlich eines eigenständigen jüdischen Staates, durchgesetzt.

Ein zeitgenössischer britischer Beobachter habe das Pariser Friedensabkommen als „A peace to end all peace“ („Ein Frieden, der jeden Frieden beendet“) bezeichnet. „Das errichtete Haus ist auf Sand aufgebaut“, habe damals die italienische Zeitung Tempo geschrieben und gewarnt, dass es den Anstürmen der missachteten Interessen der Einheimischen nicht standhalten werde. „Teile und herrsche“ – dieses Prinzip der Aufteilung eigentlich zusammenhängender Gebiete sei nach dem Ersten Weltkrieg von den westlichen Mächten im Nahen Osten bis heute fortgesetzt worden, machte die Journalistin deutlich.

Leukefeld beschrieb den Gang der Ereignisse bis heute, einschliesslich des Auftritts des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vor der UN-Vollversammlung im September 2023. Dabei zeigte dieser eine Karte des „Neuen Nahen Ostens“, auf der es kein Palästina mehr geben würde. Ebenso erinnerte sie daran, dass der Gaza-Streifen seit 2007 komplett von Israel blockiert wurde. „Die tiefe Wunde im Mittleren Osten ist Palästina.“

Im Netz der Geopolitik gefangen

Die Bevölkerung der Region, ob als Akteur, ob als Flüchtling oder als Stellvertreter-Regierung, sei „gefangen im Netz der Geopolitik“. Dieses werde zum einen vom westlichen Block der alten Kolonialmächte bestimmt und zum anderen vom Block des Ostens und Südens mit Russland, China und den einstigen Kolonien. Die USA hätten rund um die arabische Halbinsel Militärstützpunkte platziert, um die Seewege und Handelsrouten, vor allem den Öltransport kontrollieren zu können.

Heute gehe es zunehmend auch um Erdgas, erklärte Leukefeld mit Hinweis auf die Erdgasfelder im Mittelmeer, die von der Europäischen Union (EU) ins Visier genommen worden seien. Während regionale Akteure wie Jordanien und Ägypten von den USA abhängig seien, würden andere, wie die Golfstaaten, zunehmend die Zusammenarbeit mit China und Russland suchen.

Der „große Fehler des Westens“ sei, dass dessen Regierungen die eigene Politik und deren Folgen in der Region nicht reflektierten: „Das ist auch nicht ihr Interesse. Sie haben Interesse, zu kontrollieren und auszubeuten.“

Die gegenwärtige Debatte um den Konflikt zwischen Israel und Iran zeige, dass es immer nur um Konfrontation gehe, um die eigenen westlichen Interessen durchzusetzen. Die Region sei durch den mehr als zwanzigjährigen US-geführten „Krieg gegen den Terror“ zerstört und habe in der Folge viele Probleme.

Kooperation statt Konfrontation

Dabei wollten die Länder im Nahen Osten und ihre Menschen nichts anderes, „als dass sie miteinander dort kooperieren und Handel treiben können und wieder aufbauen können“. Die Chance dafür würden sie bei China und Russland sehen. „Und alle diese Länder wenden sich nach Osten. Das ist eine ganz klare Aussage.“

Die G7-Staaten hätten einen Katalog von Vorschriften für die Länder der Region aufgestellt – „über ein Gebiet, das Ihnen überhaupt nicht gehört“. Der Journalist und Whistleblower Julian Assange habe unter anderem die gegenwärtigen westlichen Verbrechen in der arabischen Welt aufgedeckt und sitze dafür im Gefängnis. Karin Leukefeld forderte Freiheit für ihn wie auch für Palästina.

Die EU versuche mitzumischen und habe den Mittleren Osten einschließlich Nordafrikas als Interessensgebiet für die eigene Politik und für den Handel bestimmt. Dazu habe sie unter dem Etikett „Nachbarschaftspolitik“ einen „Feuerring“ um das Mittelmeer gelegt. Das verdeutlichte die Journalistin anhand einer Karte, die zeigte, dass in den betreffenden Ländern in den letzten Jahren zahlreiche Konflikte ausbrachen.

Beim Versuch als Weltmacht aufzutreten, versuche die EU, Verbindungen zwischen Asien und Europa über den Mittleren Osten zu schaffen. Diese sollen von Rohstoffen bis Daten das transportieren, was der eigenen europäischen Wirtschaft nutzt.

Die westliche Politik im Nahen Osten habe die Lebensgrundlagen und -perspektiven der Menschen zerstört. Leukefeld forderte „viel mehr Kritik daran“ auch in Deutschland ein, insbesondere von den Medien. Das jüngste G7-Treffen habe erneut gezeigt: „Sie reden über die Region, als wäre das ihr Gebiet.“

Disclaimer: Berlin 24/ 7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7  widerspiegeln.

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