Eine leichtfertige Republik

  • MEINUNG
  • Oktober 30, 2024
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Leichtfertig? Hat der Bundespräsident wirklich von Leichtfertigkeit bei der Kritik der israelischen Politik gesprochen?

Ein Kommentar von Roberto De Lapuente.

Quelle: Shutterstock

Vor einigen Tagen jährte sich der Angriff der Hamas zum ersten Mal. Die hessische Stadt Frankfurt am Main verbot an jenem Tag eine Demonstration, die das Label »propalästinensisch« verpasst bekam. Aus Gründen des Gedenkens. Und weil man Ausschreitungen fürchtete. Das Frankfurter Verwaltungsgericht hat dieses Verbot gekippt. Ein Datum sei keine hinreichende Begründung, um das grundgesetzlich verbriefte Demonstrationsrecht auszusetzen – und: die Stadt Frankfurt habe die Bedeutung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit verkannt. Eine harte Einschätzung für eine Stadt, die sich gerne als demokratische Vorkämpferin gibt.

Natürlich musste auch der höchste Apparatschik im Lande zu jenem Tag etwas vortragen. Die üblichen Schlüsselwörter fielen, es ist kaum wert, darüber zu sprechen: »Zerreißprobe«, »Antisemitismus«, »Trauer« und »Solidarität«. Dass die Menschen in Gaza unermessliches Leid erfahren haben, wusste er immerhin auch zu erwähnen. Und dann noch dieser eine Satz, der überall zitiert wurde. Steinmeier warnte nämlich vor einer leichtfertigen Verurteilung Israels – und damit der israelischen Politik.

Leichtfertig? Hat er wirklich »leichtfertig« gesagt? Ist ja irrwitzig! Zumal er vorher noch von der gravierenden Not der Palästinenser in Gaza gesprochen hat. Damit zerschießt der Bundespräsident nicht nur das zuvor Gesagte, er zeigt auch auf, dass seine Reden nichts anderes sind als irgendwie zusammengefummelte Sätze, die zusammengenommen in keiner Relation zueinanderstehen. ChatGPT kann das mittlerweile schon besser als die Bewusstseinsindustriellen aus Bellevue.

Was genau ist also leichtfertig? 42.000 Menschen fanden seit Beginn des Gaza-Krieges den Tod. Davon sollen über 11.000 der Getöteten Kinder gewesen sein. Wie dramatisch die Situation für Kinder ist, zeigt folgender Satz von Unicef: »Leider ändern sich die Zahlen, wie viele Kinder in Gaza gestorben sind, sehr schnell. Deshalb veröffentlichen wir in diesem Beitrag keine konkreten Zahlen.« Fast 100.000 Menschen wurden seit Beginn der israelischen Militäroperation verletzt. Bei ehemals 2,2 Millionen Menschen, die im Gazastreifen lebten, mag das übersichtlich klingen – vielleicht sollten wir mal das kürzlich noch so überaus beliebte Instrument der Inzidenz herauskramen, um es deutlicher zu machen: Auf 100.000 Palästinenser kommen also in etwa 4.500 Verletzte. Solche Inzidenzwerte haben wir selten gesehen.

Die deutschen Medien bringen die Bilder selten bis gar nicht: Weinende Väter, die kleine Leichname bergen und total eingestaubt forttragen, unter reger Anteilnahme traumatisierter Mütter und Nachbarn. Wenn ich zum Kiosk – der auch Postfiliale ist – um die Ecke gehe, läuft da eigentlich immer Al Jazeera. Der Laden wird von einem syrischen Herrn geführt. Dort sah man eine Weile lang das Leid in einer Direktheit, dass es wehtat. Der Ladenbesitzer hat einen großen, hochauflösenden Fernseher, sodass der Eindruck entstehen konnte, man sei mittendrin im Elend. Der Mann schüttelt nur den Kopf, wenn er das sieht. Alle seien sie verrückt, sagt er.

Der gesamte Landstrich liegt in Schutt und Asche, Infrastruktur gibt es faktisch keine mehr. Die medizinische Versorgungslage ist – trotz humanitärer Unterstützung – fragil. Der Gazastreifen war ohnehin kein Platz, an dem große Lebensqualität zu finden gewesen wäre. Das karge und ausgezehrte Land lud nicht zum Flanieren ein. Nach diesem Jahr unter Beschuss ist der schmale Streifen unbewohnbar geworden.

Es ist also Leichtfertigkeit, das alles im Sinn zu haben, wenn man die israelische Politik, das israelische Vorgehen, die israelische Gnadenlosigkeit moniert und kritisiert? Sicher doch, alles hat seine Vorgeschichte. Eben auch diese israelische Intervention, deren Vorgeschichte der 7. Oktober ist – man darf das nicht ausblenden, das wäre so unfair wie die Vorgeschichte zur Vorgeschichte auszublenden: Die Landnahme, das Ausrotten arabischer Städte- und Ortsnamen, von denen beispielsweise der Schriftsteller Raja Shehadeh in seinem Buch »Was befürchtet Israel von Palästina?« zu berichten weiß. Die Ereignisse im Nahen Osten sind eine Geschichte voller Vorgeschichten.

Aber lassen wir das Aufrechnen und Wiederaufrechnen. Natürlich war klar, dass Israel nach dem 7. Oktober des letzten Jahres reagieren würde. Dass es ein solches Ausmaß nehmen, die politischen Akteure zur vollkommen entmenschlichenden Sprache greifen würden, der palästinensischen Zivilbevölkerung der Tod so häufig begegnen würde: Darf man da noch vielleicht ein bisschen leichtfertig nach Angemessenheit fragen?

All das im Sinn zu haben, wenn man die israelische Außenpolitik, die ja zugleich auch Innenpolitik ist, aus einem Land heraus kritisiert, das für sich immer noch den Anspruch pflegt, einen Bund fürs Leben mit der Meinungsfreiheit eingegangen zu sein (während es den Digital Service Act verabschiedet und neben illegalen Inhalten im Internet gleich noch unliebsame Meinung löschen lassen will): Ist das berechtigt – oder nur leichtfertig und daher präsidial zu kritisieren?

Kommen wir nochmal kurz auf die Meinungsfreiheit zurück: Die erlaubt leichtfertige Kritik. Auch überzogene. Sogar falsche. Und freche ohnehin. Das sage nicht ich – darüber hat das Bundesverfassungsgericht befunden. Und zwar am 28. November 2011. Dort hieß es, dass Meinungen »stets in den Schutzbereich von Art. 5 GG [fallen], ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden.« Und weiter heißt es: »Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden.« Und nochmal weiter heißt es, man höre und staune: »Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegende Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt.«

Das Bundesverfassungsgericht bemüht nicht das Wort der Leichtfertigkeit. Aber wer ein wenig die deutsche Sprache beherrscht, könnte die Ausführungen durchaus so zusammenfassen. Nämlich, dass leichtfertige Meinungen und damit Einschätzungen, Einordnungen, Bewertungen und auch Verurteilungen durchaus nicht nur möglich sind – sondern Verfassungsrang haben. Leichtfertig zu verurteilen, lieber Herr aus dem Berliner Lustschlösschen, ist gar kein Gegenstand, über den Sie zu befinden haben. Das wurde längst ausgelotet.

Dem Bundespräsidenten geht es also wie der Frankfurter Stadtverwaltung, die Demonstrationen nach Gutdünken verbietet – er übertönt gerichtliche Feststellungen, die ganz und gar nicht für ihre Leichtfertigkeit gerühmt werden. Die Leichtfertigen sind Leute wie Steinmeier oder eben jener Mike Josef, Oberbürgermeister aus der Mainmetropole. Nicht die Kritik am israelischen Vorgehen ist die schlimmste Leichtfertigkeit der Stunde, sondern der Umgang mit denen, die diese Kritik – ob leichtfertig oder nicht! – unterbinden und aus dem öffentlichen Raum ausblenden wollen.

Nun sind die Punkte dieser Kritik ja eben nicht leichtfertig, wie gesehen. Sie künden von Tod, Zerstörung und ein Stück weit auch von Ausrottung. Dass der nach dem Grundgesetz höchste Mann im Land so tut, als könne er mit dem Attribut »leichtfertig« all das kleinreden, ist keine Kleinigkeit, keine falsche Wortwahl oder etwas lax Dahingesagtes. Es ist leichtfertiges Vernebeln der Realität. Wo sind eigentlich die Moralisten und Sprachpolizisten, wenn es wirklich mal etwas zu beanstanden gibt? Dann ziehen sie sich leichtfertig zurück – und die Medien zitieren geradezu leichtfertig exzessiv diese Sentenz des Bundespräsidenten. Längst sind sie zu Copy-and-Paste-Anstalten geworden, die den Sprech der Polit-PR-Berater übernehmen.

Eine leichtfertige Republik sind wir geworden. Leichtfertig geht sie gegen Andersdenkenden vor. Leichtfertige Journalisten reproduzieren leichtfertig das politische Wording und unterlassen leichtfertig jegliche Kritik an Politikerreden. Ebenfalls leichtfertig gucken die Moralisten weg, wenn es sich lohnte, und leichtfertig verfolgen sie solche, bei denen es sich nicht lohnt. Demos werden leichtfertig verboten, Grüßauguste salbadern leichtfertig etwas über Verurteilungen, die ihnen unangenehm sind. Diese ganze Leichtfertigkeit macht dieses Land zu einem schwerfälligen Konstrukt, in dem Menschen ihre eigene Meinung fürchten, so sie abweicht – und damit auch ihre eigene Courage. Denn wer die hat und dagegenhält, dem stehen Probleme ins Haus. Diese Entwicklung zu kritisieren: Ist wahrscheinlich auch leichtfertig – oder, Herr Steinmeier?

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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