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Ostdeutschland und die AfD: Die Reaktion auf gebrochene Versprechen des Westens

Aus den hohen Zustimmungswerten für die AfD wird oft abgeleitet, der Osten sei „demokratiefeindlich“ und „undankbar“. Unser Autor meint hingegen: Das Aufzeigen von Täuschungen ist kein Undank.

Ein Artikel von Christoph Zwickler.

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Aus den Ergebnissen der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen wird oft ein Vorwurf gegenüber dem Osten konstruiert, er sei „demokratiefeindlich“. Der Westen sei doch gut, der Osten undankbar. Die Wahlergebnisse könnten sich in Brandenburg wiederholen. Es wäre ratsam, die pauschalen Vorwürfe dann nicht zu wiederholen. Denn die Begeisterung, mit der sich der Osten 1990 der Bundesrepublik angeschlossen hat, zeigt, dass damals zumindest eine positive Bindung zum Westen bestand. Gäbe es seit jeher echte Vorbehalte, so hätten die traditionellen Parteien im Osten schon früher schlecht abgeschnitten. Es muss sich also in den letzten 34 Jahren etwas verändert haben.

Die Bundesrepublik stand immer in Konkurrenz zur DDR. Im Westen sollte eine „soziale Marktwirtschaft“ dem ganzen Volk Wohlstand bescheren. Die Grundrechte stehen am Anfang der Verfassung. Sie sind Selbstzweck und überragen alles andere, womit sie das westliche Menschenrechtsverständnis ausdrücken. Im Osten waren sie zwar auch da, doch mussten sie dem „Aufbau des Sozialismus“ den Vorzug lassen. Reisefreiheit gab es erst mit 65, wenn zum höheren Ziel ohnehin nicht mehr beigetragen wurde.

Der Westen hatte ein Verfassungsgericht, das mitunter den Regierenden widersprach, etwa als es 1983 mit seinem Volkszählungsurteil dem Staat verbot, Daten seiner Bürger umfassend zu sammeln. Die Richterschaft sah, welches Unheil dies in falschen Händen anrichten könnte. Auch die Pressefreiheit wurde so gelebt, dass der Staat immer wieder erfolgreich auf seine Schranken hingewiesen wurde. In der DDR war die Presse dagegen ein Organ der Machthaber. Der westliche Staat war offen, er verharrte nicht in sozialistischer Steife, sondern konnte seine Richtung grundlegend ändern. Dafür steht Willy Brandts Ostpolitik.

Der Begriff des Querdenkers galt als positiv

Streitkultur war die Basis des politischen Lebens: Es gab die einen und es gab die anderen, niemand war „besser“ oder „schlechter“, mal setzten sich die einen durch, mal die anderen. Es wurde gestritten, aber man akzeptierte einander. Kompromisse wurden gesucht. Der Begriff des Querdenkers, der eingetretene Pfade hinterfragt, galt als positiv, die Selbstreinigungskräfte waren intakt. Wie bei einem Friedrich Schiller in der Weimarer Klassik oder einem Immanuel Kant unter Friedrich dem Großen wurden Auffassungen, die der aktuellen Mehrheitsmeinung widersprachen, nicht als Last gesehen, sondern oft als intellektuelle Bereicherung. All das wurde im Osten intensiv beobachtet, Stichwort Westfernsehen. Großzügigkeit war das Versprechen des Westens, so sollte die gemeinsame Bundesrepublik werden.

Nach 1990 entfiel die Konkurrenz der Systeme. Der Westen hatte gewonnen. Damit endete auch jener Wettbewerb, in dem bis 1990 die Überlegenheit das Maß aller Dinge war. Als Folge kehrte nach 1990 Müßiggang ein. Außenpolitisch suchten Helmut Kohl und Gerhard Schröder zwar in den ersten Jahren nach der Wende noch den Ausgleich. Sie hatten ein feines Gespür über die eigenen Befindlichkeiten hinaus und pflegten Männerfreundschaften zu den jeweiligen russischen Staatschefs. Kohl setzte sich noch 1998 erfolgreich für die Aufnahme Moskaus in die G8 ein. Später gelang es der Politik nicht mehr wirklich, die russische Seele zu befrieden, auch nicht durch Wirtschaftskontakte.

Gravierend waren auch innenpolitische Entwicklungen. Über das, worüber eigentlich das Volk zu entscheiden hatte, wurde faktisch mehr und mehr durch finanzkräftige Lobbyisten befunden. Die Demokratie war zwar noch da, wurde aber nicht mehr so mit Inhalten gefüllt wie versprochen. Glaubwürdige Vertreter der alten bundesrepublikanischen Geisteshaltung wie Heiner Geißler, Norbert Blüm und Frank Schirrmacher – alle aus dem konservativen Lager – sparten nicht mit Kritik. CDU-Mann Geißler engagierte sich bei Attac, sein Parteifreund Blüm war Gründungsmitglied der Bürgerbewegung Finanzwende und FAZ-Mitherausgeber Schirrmacher fragte gar, ob angesichts des aktuell gelebten Kapitalismus die Linke nicht doch recht hatte. Sie waren noch von Grundsätzen geprägt, nicht von vermeintlichen „Sachzwängen“.

Angela Merkels Stil war neu: Sie umarmte die alte Opposition und regierte mit Harmoniekultur bequemer als mit der gewohnten Streitkultur. Diskutieren ist mühsamer als „alternativlos“ zu agieren. Sie gab ganz einfach dem von ihr jeweils so gefühlten Zeitgeist den Vorzug. Das beförderte indes eine intellektuelle Dekadenz. Auch damit entfernten sich die etablierte Politik und Teile der Geistesgesellschaft immer weiter vom Versprechen der Großzügigkeit. Zwar wurden einige Randgruppen zu integrieren versucht. Im Gegenzug wurden jedoch andere, die insbesondere abweichende Auffassungen vertraten, mehr und mehr ausgegrenzt. Ihre Anliegen erklärte man ohne echte geistige Auseinandersetzung pauschal zu Interessen von Schmuddelkindern, mit denen nicht gespielt wird. Die herrschende Meinung mutiert inzwischen mitunter zur absoluten Wahrheit, Kompromisse fallen weg, Infragestellungen sollen unterbleiben.

Überwachung statt Freiheit

Wie lebt der Staat heute konkret seine Versprechen von 1990? Er führt eine elektronische Gesundheitskarte ein, Bahnfahrkarten wie das Deutschlandticket gibt es regelmäßig nur noch auf dem Smartphone, bargeldloses Bezahlen wird propagiert und Überwachungskameras beherrschen den öffentlichen Raum. Gestapo und später Stasi hätten Weihnachten und Ostern zusammen gefeiert, hätten sie ein Volk vorgefunden, das an derartige Möglichkeiten zentraler Überwachung sogar bereits gewöhnt ist.

Inzwischen arbeitet der Verfassungsschutz mit dem Konstrukt einer „Delegitimierung des Staates“. Die Begründung mutet nebulös an. Die DDR-Staatssicherheit hätte ihren allumfassenden Anspruch nicht besser formulieren können, die eigenen Bürger aus „guten Gründen“ überwachen und maßregeln zu dürfen.

Demokratie in Form von Bürgerbeteiligung wurde nicht nur 1990 versprochen, sie wird permanent von allen Parteien vor jeder Kommunalwahl zugesagt. Viele Bundesländer sehen kommunale Volksabstimmungen vor. Kommt es aber zum Schwur und engagierte Bürgerschaften fordern diese Mitbestimmung ein, so scheitert dies regelmäßig an kleinlichen Formalia. Oft sieht es dann so aus, als halte die Obrigkeit zwanzig Kommunalpolitiker für klüger als 2000 Bürger, weswegen die Bevormundung angeblich gerechtfertigt sei.

Rechtsstaat heißt auch, dass sich jeder auf das Recht verlassen kann. Das ist der Rahmen der Freiheit. Ihn darf jeder nutzen, auch die Machthaber müssen das anerkennen. Sie dürfen den Rahmen nicht aufgrund von eigenen „höheren Zielen“ brechen. Beim Compact-Verbot hat nur die Justiz die Regierenden davor bewahrt, Unrecht zu vollenden.

Auf den Klimawandel wird mit einem Bürokratiemonster namens „Heizungsgesetz“ reagiert. In Holland drehen sich die Stromzähler ganz einfach auch rückwärts, Strom aus Photovoltaik kann so ohne Bürokratie ins Netz eingespeist werden. Das fördert diese klimafreundliche Energiegewinnung enorm. In Deutschland geht das aber nur ganz eingeschränkt, die Regierenden müssten sich sonst mit den Großen, mit den Stromkonzernen anlegen. Das aktuelle staatliche Handeln scheint dem Lexikon des Spießers entnommen: nach unten treten, nach oben buckeln.

Corona: Für Ostdeutsche ein Déjà-vu-Erlebnis

Ein Höhepunkt der Absage an die Versprechen des Systems war die Corona-Zeit. Von Großzügigkeit gegenüber Andersdenkenden war nichts mehr zu fassen, Ausgrenzung wurde regelrecht forciert, gerade auch von den Regierenden. Neuer Mief zog ein, Gängelei und kleinbürgerliches Blockwartdenken schwangen sich zu Hochkonjunktur auf. Der linksliberale Jurist und Publizist Heribert Prantl sah die Tür in den Obrigkeitsstaat aufgestoßen. Das führte im Osten verständlicherweise zu Déjà-vu-Erlebnissen mit Blick auf die DDR. Nun wurden die Grundrechte nicht mehr dem „Aufbau des Sozialismus“ geopfert, sondern der „Pandemiebekämpfung“.

Auch im Westen gab es teils großes Befremden. Selten zuvor hatte ein demokratischer Rechtsstaat derart mit emotionaler Erpressung gearbeitet. Dabei geht es nicht darum, ob eine Impfung jeweils angemessen war, auch der Autor ist mehrfach geimpft, sondern um die Anmaßung, mit der sich der Staat der freien Individuen bemächtigte – und nicht zuletzt um die Zwietracht, die er damit säte. Machten es die Alten im Westen nach 1949 noch vor, wie ein tief gespaltenes und verunsichertes Volk weitgehend geeint wurde, etwa durch erfolgreiche Integration der Flüchtlinge aus dem Osten, so gelang dem Pandemiestaat in kürzester Zeit das Gegenteil.

In der alten Bundesrepublik wären die RKI-Protokolle ein richtiger Leckerbissen für die etablierten Medien gewesen, belegen sie doch echtes Staatsversagen bis hin zur Täuschung der Justiz. Rücktrittsforderungen hätten sich angeschlossen. 2024 waren es nicht mehr die etablierten Medien, die hier Licht ins Dunkel brachten, und ihnen war dazu auch nur noch ein Achselzucken zu entlocken. Sie warnen inzwischen mehr vor neuen politischen Akteuren als die Regierenden kritisch zu begleiten. Im Gegenzug wird gegen die aus der Veröffentlichung hervorgegangene Kritik am Staat über eine „Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen“ nachgetreten. Pressefreiheit und Presseengagement sahen 1990 noch ganz anders aus.

Im Osten wird all das auch heute schneller registriert als im Westen. Man reagiert sensibler, man befasste sich bewusst mit zwei Systemen und vergleicht. Die Bundesrepublik war hier keine Selbstverständlichkeit. Sie beschreibt ein System, mit dem sich der Osten auseinandergesetzt hat und für das sich viele gern entschieden haben. Es sind diese feineren Antennen für die gelebte Ordnung und ihre Widersprüche, welche die mit den Wahlen dokumentierten Stimmungspegel im Osten weiter ausschlagen lassen. Die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen sind Ausdruck gebrochener Versprechen. Das Aufzeigen von Täuschungen ist kein Undank. Vielleicht gelingt es spätestens nach der Wahl in Brandenburg, das endlich anzuerkennen.

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Christoph Zwickler hat unter anderem mehrere Semester Politikwissenschaften, Philosophie, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften studiert. Er ist seit 2016 in Südhessen Vorsitzender einer lokalen Wählergemeinschaft.

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