Die Tyrannei der Verweichlichung
Die Geschichte der Alten, die auf die Jugend oder aber auf die sich verändernde Welt herabsehen, ist eine Geschichte voller Verweichlichungsvorwürfe. Wahrscheinlich war allerdings keine Gesellschaft je so zartbesaitet, als es die hiesige ist.
Ein Kommentar von Roberto De Lapuente.
Meine Güte, wir halten ja im Umgang miteinander wirklich nichts mehr aus! Neulich im Dialog mit einer jüngeren Person: Sie wollte irgendwas über Menschen mit kräftiger Statur sagen, nichts Verwegenes, ganz sachlich. Doch immer wieder entschuldigte sie sich vorab, sie wolle mich wirklich, ganz wirklich und ehrlich nicht damit kränken. Ich erwiderte, dass mir das ziemlich einerlei sei, sie soll einfach drauflosreden, ich wisse ja selbst, dass ich fett sei. Daraufhin zeigte sie sich pikiert. Nicht, weil ich sie maßregelte, sondern weil ich selbst auf diese Weise von mir sprach. Das Wort »fett« möge sie gar nicht, erwiderte sie.
Mich macht dergleichen müde. Der neue Menschentypus bringt mich zum Gähnen, er langweilt mich. Gut, die Person mochte dieses Wort nicht. Aber das ist doch bloß ihre Befindlichkeit. Warum behält sie die nicht für sich? Wollte sie mir nicht was erzählen? Stattdessen wimmerte sie jetzt vor sich hin, fand mich taktlos, ja grobschlächtig sogar. Fühlte sich stark von mir getriggert, obwohl sie selbst noch nicht mal dick ist.
Flirten verlernen
Der neue Mensch lebt in der Hoffnung, seinen Alltag unter Anleitung etwaiger Triggerwarnungen frei von seelischem Schaden zu vollziehen. Um sich vorab rüsten, um sich einstellen zu können, mag er es gewarnt zu werden. Oder besser noch: Um zu türmen, dem Unangenehmen aus dem Weg gehen zu können. Wenn er Ovids Metamorphosen lauscht, dann will er bitte vorab darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass darin Vergewaltigungen stattfinden. Damit man es nicht aushalten muss, wenn man es nicht aushalten will.
Überhaupt aushalten, ausgezeichnetes Stichwort: Das haben wir offenbar ganz generell verlernt. Vertritt jemand Ansichten, die man als nicht modern, als nicht zeitgemäß, als nicht nach den eigenen Vorstellungen kategorisiert, hievt man die Meinungsfreiheit schnell auf den Prüfstand. Die ist dann kein Recht auf eine eigene Ansicht mehr, sondern wird als Pflicht zur richtigen Anschauung deklariert. Einfach mal aushalten, dass andere Menschen in anderen Lebenssituationen, anderen Jobs und anderen sozialen Gefügen anders ticken könnten: Um Himmels willen! Das kommt ja einer diktatorischen Unterwerfung gleich.
Vor längerer Zeit erreichte mich eine Mail. Irrtümlicherweise, um ehrlich zu sein. Eigentlich ging sie an Studenten meiner Stadt. Denen sollte ein Flirt-Workshop offeriert werden. In der Mail hieß es, dass Flirt »ein Wort [sei], welches nicht unbedingt positive Gedanken und Gefühle hervorbringt«. Das wollte der Workshop ändern. Denn es gehe nämlich darum, »dass sich die andere Person auch wohlfühlt«, dass man »dabei diskriminierende, einengende Stereotype« vermeidet. Man möchte sich dem »Konsens-Prinzip (Zustimmungskonzept / sexual consent) nähern« und so eine angenehme Flirt-Atmosphäre möglich machen.
Der Workshop sei für beide Geschlechter offen – eine Formulierung, die heute schon nicht mehr politisch korrekt ist, damals aber noch möglich war. Blu leitete den Workshop. Ihres oder seines Zeichens »Bildungsreferent_in (mit) Abschluss als Social Justice und Diversity Trainer_in«. Als alter weißer Mann weiß ich, dass Flirten immer dann angenehm ist, wenn man es nicht zu verkopft anstellt. Wer vorher nachdenkt, bleibt eher Single und versauert in der Ecke. Körbe muss man auch dann in Kauf nehmen – aber ist das schlimm? Oder hält das der neue Gewimmerbürger nicht mehr aus, wenn er auf Ablehnung stößt und bleibt daher lieber alleinstehend?
Mimosen im Safe Space
Der Workshop wollte aber das Flirten in einen geschützten Raum überführen, indem er sensibilisiert und indem den Teilnehmern beibringt, nicht anzuecken und möglichst gefällig zu sein. Dem Ansatz liegt ein fatales Fehlurteil zugrunde: Dass das Flirten nämlich eine Tätigkeit zwischen Geschlechtern darstellt, die zwangsläufig immer unangenehm sei — und die daher zwangsläufig abgleitet in eine Sphäre größten Unbehagens. Man redet den potenziellen Teilnehmern etwas ein, triggert sie auf Impulse, die sie vorher vielleicht noch nicht einmal erahnten. Das Angebot von Blu war weniger Seminar als ein Lehrgang zur Sensibilisierung auf Auslöserreize.
In dieser irrgeleiteten Mail spiegelte sich alles wider, was den homo novus antreibt. Gelassenheit, Nonchalance: Mit ihm nicht zu machen. Er ist schrecklich angespannt, selbst das Flirten ist für ihn ein potenziell sexistischer Anschlag auf die Menschen- und Frauenwürde. Daher sucht er schon vorab nach möglichen Auslöserreizen, um der Situation gewachsen sein zu können. In einer blöden Flirtsituation einfach mal abwinken, Stinkefinger zeigen oder überheblich von oben herab lächeln: Geht offenbar nicht mehr. Nein, schließlich ist der moderne Menschentypus schnell traumatisiert, kippt sich eine Ladung Globuli in die Handfläche und entwickelt Strategien, um mit der Härte des Flirt-, Lebens- und Liebesalltages fertig zu werden.
Leben als Safe Space: Der Sicherheitsmensch kann mit Verhalten und Ansichten, die ihn verunsichern, nicht mehr umgehen. Er steht auf Regulierung – nicht im materialistischen Alltag. Banken und Wirtschaft sollen ruhig dereguliert werkeln, den Abbau von Barrieren hält er für gelungen, vereinfachen sie doch das Reisen und die Arbeit.
Der zeitgenössische Staatsbürger mit politisch korrekten Antrieb ist eine Mimose, eine Zimperliese. Eine durch und durch verweichlichte Gestalt, die von sich behauptet, der Demokratie endgültig in die Schuhe zu helfen, aber eigentlich das Gegenteil bezweckt. Das Mimosenhafte ist Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Denn normalerweise »sind es Diktaturen, die sich mimosenhaft geben und hart gegen jene vorgehen, die nicht ihren Normen entsprechen. Mit Härte schützen sie ihre verweichlichte Haltung zur Vielfalt. In einer Demokratie muss man eigentlich eher hart zu sich selbst sein, weil in ihr (fast) alle einen Anspruch darauf haben, ihre Sicht der Dinge frei zu äußern. Die Mimose ist folglich kein Demokrat. Sie stellt den Vorboten einer tyrannischen Weltvorstellung dar.« Sehen Sie es mir nach, dass ich mich hier selbst zitiere.
Tyrannische Weicheier
Ja, stimmt schon, die Alten jammern seit Jahrhunderten über die verweichlichte Jugend. Aber ich beklage mich ja gar nicht über die Jugend. Von der halte ich zunächst gar nichts, ich kenne sie nur sehr bedingt – erwarte mir aber auch nichts. Was mir Sorgen macht sind ja nicht junge weiche Leute. Abgehärtet wird man ja ohnehin erst, wenn das Leben auf einen einprasselt. Dann lernt man, stumpft ab, rüstet sich mit Härten, die man im Alltag benötigt, um sich halbwegs unbeschadet durch den Zivilisationsdschungel zu schwingen. Was mich besorgt sind diejenigen, die schon älter sind, schon etwas Lebenserfahrung haben müssten. Dass die so dünnhäutig sind, so verweichlicht: Was ist denn da los? Und wieso dürfen die ihren Einfluss auf junge Menschen geltend machen?
Das kommt davon, wenn man den Menschen sagt, es gäbe immer und überall eine Lösung, einen richtigen Weg, jede Unabwägbarkeit könne reguliert werden. Das mag in manchen Bereichen klappen. Aber im zwischenmenschlichen Kontext, in Milliarden Gesprächen und Abermilliarden Blicken, die jeden Tag zeitgleich geschehen: Das kann ein durch Triggerwarnungen störungsfreier Alltag nicht bewerkstelligen. Es käme darauf an, Menschen abzuhärten für das, was wir Zwischenmenschlichkeit nennen. Das heißt freilich nicht, dass jede Fummelei akzeptabel ist. Aber so zu tun, als schlummere in jeder Flirterfahrung ein Trauma und in jedem, der die Welt ein wenig anders sieht, ein Gefährder, so wird man doch selbst nicht glücklich. Aber vielleicht wollen diese Leute auch nicht glücklich sein, weil das eigene Glück ja andere triggern könnte.
Diese neue Verweichlichung scheint mir tatsächlich singulär in der menschlichen Historie zu sein. Nie zuvor war der verweichlichte Staatsbürger so einflussreich auf die politischen Gestalter, wie er es derzeit ist. Das Mimosenhafte technologisiert gewissermaßen die Aspekte des Daseins, die ihn ängstigen und die er besser mit Kursen bekämpfen sollte, die Selbstvertrauen und Gelassenheit lehren. Es ist eine Kunstfertigkeit, die sich hier etabliert, die Kunst des Unaushaltbaren – der infantile Anspruch, eine vielfältige Welt, in der nicht immer das vorkommt, was einen begeistert und erfreut, mit den Mitteln des Ohrenverstöpselns und Augenzuhaltens bei gleichzeitigem lauten Anstimmen eines Liedes, zu einer Harmonie zu verhelfen, in der sich der Weichling unbeschadet zurückziehen kann: So kann man nicht mal im Kindergarten das Zusammensein gestalten.
Es ist im Hinblick auf die deutsche Geschichte ja nicht ganz ungefährlich, für eine neue Härte zu plädieren. Zäh wie Windhunde und flink wie Kruppstahl soll eine neue Härte ja auch gar nicht sein. Und auch nicht so herzlos im Umgang mit Schwächeren, ganz ohne Empathie und Feingefühl. Aber manches muss man nun mal aushalten können. Hierzu muss man hart zu sich selbst sein. Demokrat zu sein ist halt mal so. Es bedeutet jeden Tag zur Erkenntnis zu kommen, dass die eigene Ansicht nur eine von vielen ist. Demokratie bedeutet Tag für Tag aushalten zu können. Ich die anderen – die anderen mich. Ich sage nicht, dass das einfach ist. Und ich sage auch nicht, dass es mir immer gelingt. Aber besser ein nicht ganz perfekter Demokrat sein, als eine perfektionierte Mimose, die ins Tyrannische weist.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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