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Ist ein „schwarzer Schwan“ über Orbáns Regime hinweggeflogen?

Ungarn ist immer wieder Thema in den Medien, aber wir wissen kaum etwas darüber. Deshalb haben wir den ungarischen Journalisten eingeladen, Einblicke in die ungarische Politik, die ungarische Gesellschaft und die Entwicklung des Landes zu geben. Das hier ist sein erster Beitrag über die aktuelle politische Situation in seinem Land.

Ein Kommentar von Gábor Stier, aus dem Ungarischen von Éva Péli übersetzt

Éva Péli: Die Burg in der ungarischen Provinzstadt Gyula<br>
Bild: Éva Péli: Die Burg in der ungarischen Provinzstadt Gyula

Die ungarische Innenpolitik ist erwacht. Die nun seit anderthalb Jahrzehnte andauernde Zweidrittelmehrheit von Fidesz (Ungarischer Bürgerbund), von Viktor Orbán geführt, und die Untätigkeit haben die ungarische Gesellschaft in eine tiefe Apathie gestürzt. Diejenigen, die die Situation als positiv und stabil empfinden, lehnen sich selbstzufrieden zurück, in der Gewissheit, dass die konservative Regierung nicht zu stürzen ist. Während ein bedeutender Teil derjenigen, die sich Veränderungen wünschten, sich aufgrund des Mangels an Alternativen und der Hoffnungslosigkeit von der Politik abwandte. Nichts hat Viktor Orbáns Macht bedroht. Nicht einmal die Tatsache, dass die Korruption weiterhin ein gravierendes Problem bleibt, die Inflation höher ist als der europäische Durchschnitt und die wirtschaftlichen Probleme immer erdrückender werden. Ganz zu schweigen davon, in welchem Stil das Land regiert wird. Auch der Druck aus dem Westen hat die Orbán-Regierung nicht erschüttert. Die Europäische Union hat versucht, die Regierung zu stürzen, indem sie Hilfen blockierte, und die Vereinigten Staaten haben sich durch ihren Botschafter David Pressman mit Unterstützung der Opposition in die inneren Angelegenheiten Ungarns eingemischt.

Das von Viktor Orbán ausgebaute politische System hat sich als unerschütterlich erwiesen. Der Ministerpräsident hat nämlich die Lehren aus der Niederlage von 2002 gezogen, als er nach einer erfolgreichen Regierung – nun gibt das sogar die Opposition zu –, scheiterte. Damals muss er beschlossen haben, dass er, sollte er jemals wieder an die Macht kommen, dieses System „bombensicher“ zementieren würde. So entstand das „Regime der Nationalen Zusammenarbeit“ (NER), das sich auf traditionelle Werte, soziale Sicherheit und Souveränität stützt. Sein Ziel ist es, eine nationale Elite und eine neue Besitzerklasse zu schaffen und er schreckt vor keinem Mittel zurück, um dies zu erreichen. Sogar die Opposition ist ein Teil davon. In dem Sinne jedenfalls, dass sie der Kommunikation – der machtvollsten Kraft – der Regierung folgt. Und der ehemalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, der die politisch linke, wirtschafts- und sozialliberale Demokratische Koalition anführt, erinnert die Wankelmütigen in jedem Moment daran, dass der Fidesz das kleinere Übel ist.

Der größte Gegner des Fidesz ist er selbst

Die Macht der konservativen Partei ist im Wesentlichen durch ein Wahlsystem zementiert, das wiederholt trotz weniger als 50 Prozent der Listenstimmen zu Zweidrittelmehrheiten geführt hat, sowie durch die Zersplitterung und Schwäche der Opposition. Zudem war die Koalition der Opposition 2022 ebenfalls ein Misserfolg, da der Fidesz alle bisherigen Ergebnisse übertraf. Wenn die Gesellschaft unpolitisch bleibt, muss sich der Fidesz also nur darauf konzentrieren, seine rund 2,5 Millionen Wähler zu halten, um zu gewinnen. Dies birgt jedoch auch das Risiko der Bequemlichkeit, so dass der größte Gegner der Regierungspartei sie selbst ist. Unter diesen Umständen ist die Chance auf eine Ablösung der Orbán-Regierung gering. Verknöchertes Material kann jedoch leicht zerbrechen – wie es bei Parteien der Fall ist –, so kann dieses System am ehesten durch einen kleinen Fehler erschüttert werden.

Und so ist es auch geschehen. Dieser gewisse „schwarze Schwan“ war in diesem Fall die Begnadigung eines verurteilten stellvertretenden Leiters eines Kinderheims auf dem Lande. Der hatte versucht, einen pädophilen Leiter zu retten. Die Angelegenheit wurde zufällig aufgedeckt – die Opposition hatte nichts damit zu tun. Das war für die Regierungspartei äußerst peinlich, da der Schutz von Familie und Kindern eines der zentralen Elemente ihrer Politik ist. Der Fidesz versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen und opferte kurzerhand die Staatschefin Katalin Novák und die damals bereits Ex-Justizministerin Judit Varga, die die europäische Liste der Partei anführen sollte. Doch die Lawine kam ins Rollen. Ein Zeichen der Stimmungsumschwung war, dass Influencer 150.000 Demonstranten auf den Budapester Heldenplatz zusamentrommelten. Zu diesem Zeitpunkt schien es jedoch, dass dieses oppositionelle Aufflackern wie die anderen enden würde.

Diese Welle rief jedoch unerwartet den ehemaligen Ehemann der genannten Ministerin auf den Plan. Péter Magyar wandte sich, getrieben von dem Wunsch nach Rache und beruflichem Erfolg nach seiner Scheidung und dem Verlust der fetten Jobs – zu denen er durch seine Frau kam –, gegen das Regime. Klar gibt es Leute, die glauben, dass er weit davon entfernt sei, ein Einzelkämpfer zu sein, und dass er nur ein weiteres Projekt zum Sturz des Orbán-Regimes sei. Dem widerspricht die Tatsache, dass die Geschichte eine ziemlich bulevardmäßige Wendung genommen hat, denn die Details einer gescheiterten Ehe, gewürzt mit häuslicher Gewalt, waren tagelang Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Péter Magyar, der sich sowohl an seiner Ex-Ehefrau als auch am Regime rächen wollte und in dieser Situation auch eine Karrierechance sah, hat sich an die Spitze der Unzufriedenen gestellt. So brachte der im Grunde bislang Unbekannte Zehntausende von Menschen auf die Straße. Meistens Menschen, die sowohl von Orbán als auch von der von Gyurcsány geführten Opposition die Nase voll hatten und diese Stagnation satt hatten. Er ist zum Hoffnungsträger derjenigen geworden, die einen Wandel wollen, der nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition absetzen könne. Magyar gründete eine politische Dachorganisation mit dem Namen „Steht auf, Ungarn!“ (TMK) und wird bei den Europawahlen mit der Partei Respekt und Freiheit (TISZA-Partei) kandidieren, einer unbekannten Partei, die 2020 in der Provinzstadt Eger gegründet und registriert wurde. Die Popularität der neuen politischen Kraft wird auf etwa 15 Prozent geschätzt, was Magyar drei, vier Sitze im Europäischen Parlament einbringen könnte.

Orbáns Herausforderer – ein narzistischer „Held“

Es brodelt im innenpolitischen Stillstand und das frustriert neben der träge gewordenen Regierungspartei, die aus ihrem Wohlfühlmodus geworfen wurde, die Opposition, die sich auf ihren Lebensunterhalt konzentriert, als auch einen großen Teil der Gesellschaft. Im anderen Lager der Ungarn, die sich nach neuen Gesichtern und Veränderungen sehnen, überwiegt der Hass auf die Behörden. Doch ihre Hoffnung und der Anschein eines „Erlösers“ werden von der Tatsache überschattet, dass ihr „Held“ ein narzisstischer, nur bedingt liebenswerter Verräter ist, der aus dem System geworfen wurde und bei dem sich – nicht nebenbei bemerkt – herausstellte, dass er seine Frau missbrauchte. Das kommt davon, wenn das Gras im Schatten eines großen Baumes lange Zeit nicht gewachsen ist.

Der Fidesz versucht nun, die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs zurückzugewinnen, was ihm bisher nur teilweise gelungen ist. Die Oppositionsparteien stehen möglichwerweise vor noch größeren Schwierigkeiten – es können Parteien verschwinden. In diesem Zusammenhang haben einige angedeutet, dass Péter Magyar gerade vom Fidesz unterstützt werden könnte. Ich glaube das nicht, aber es besteht kein Zweifel daran, dass der Fidesz, der seinen ersten Schock überwunden hat, besser als erwartet aus dieser Situation herauskommen könnte. Er könnte sogar der aktuellen Krise entkommen, indem er ein oder zwei Sitze verliert, während die Oppositionsparteien durch diese plötzliche Stimmung des Elitenwechsels zunehmend in eine schlechtere Position geraten.

Die Frage ist, wie weit diese Welle Orbáns Herausforderer an die Macht tragen wird? Wird der Schwung bis zu den Parlamentswahlen im Jahr 2026 anhalten? Wie viele Sitze wird dieser „schwarze Schwan“ den alten Parteien bei den Europa- und Kommunalwahlen im Juni wegnehmen? Wird sich herausstellen, dass Péter Magyar wirklich ein Selfmademan ist, der den Stimmungswandel in der Bevölkerung gespürt hat und zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, oder ist er nur ein Projekt? Wenn ja, wessen Projekt ist er? Ist der Fidesz in der Lage, sich zu erneuern und die noch kleinen Risse im System zu beseitigen? Inwieweit und wie wird die Oppositionsseite des politischen Spektrums reorganisiert werden? Wie erfolgreich können die ausländischen Kräfte, die seit langem versuchen, die Regierung von Viktor Orbán zu stürzen, diese Situation ausnutzen? Orbán steht also eine schwierige Zeit bevor. Es reicht nicht aus, dass das internationale Umfeld äußerst ungünstig ist, dass sich die wirtschaftlichen Probleme dadurch verschärfen und dass es immer schwieriger wird, den Haushalt auszugleichen. Der ungarische Ministerpräsident hat jedoch schon mehrfach bewiesen, dass er bereit ist zu kämpfen und in der Lage ist, sich aus solchen Situationen zu befreien.

Gábor Stier, geboren 1961, ist ein ungarischer außenpolitischer Journalist, Analyst und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei der ungarischen Wochenzeitschrift Demokrata sowie Gründungschefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal über die slawischen Völker, insbesondere die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Davor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, von 2000 bis 2017 als Leiter des außenpolitischen Ressorts. Er war der letzte Moskau-Korrespondent der Zeitung. Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Stier schreibt regelmäßig für außenpolitische Fachzeitschriften und seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse. Er ist Autor des Buches „Das Putin-Rätsel“ (2000) und seit 2009 ständiges Mitglied des Waldai-Klubs.

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