• Berlin 24/7
  • Meinung
  • Ist der Westen hoffnungslos vom “Satanismus” überwältigt, wie russische Medien suggerieren?
MEISTKOMMENTIERT
MEISTGELESEN

Ist der Westen hoffnungslos vom “Satanismus” überwältigt, wie russische Medien suggerieren?

In seinem kürzlich erschienenen Buch "The Russian Art of War" (Die russische Kriegskunst), das ich allen wärmstens empfehle, die verstehen wollen, warum und wie westliche Politiker und Medienexperten die Ukraine zu einer tragischen Niederlage verurteilt haben, hebt der Autor Jacques Baud den Unterschied zwischen Propaganda und Desinformation hervor. Erstere neigt dazu, die eigenen Vorteile ins Unermessliche zu steigern, während letztere die Gegner schlichtweg belügt.

Ein Beitrag von Gilbert Doctorow

Shutterstock/ Spalnic
Bild: Shutterstock/ Spalnic

In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass die russischen Staatsmedien seit vielen Monaten Desinformation betreiben, indem sie den Mythos vom Niedergang und drohenden Untergang der westlichen Zivilisation unter dem Druck der LGBTQ+-Bewegung, des Amok laufenden Säkularismus und anderer abartiger Verhaltensweisen verbreiten, die heute in vielen amerikanischen Bundesstaaten und in den fortschrittlichsten EU-Ländern als “Inklusivismus” gefeiert werden.

Die visuellen Demonstrationen in "Sechzig Minuten" und "Abend mit Vladimir Solovyov" über den “Satanismus”, der ihrer Meinung nach den Westen überrollt habe und das Vorspiel zu seinem Zusammenbruch sei, und zwar gemäß der weisen Beobachtung aus der Vergangenheit, “wen die Götter vernichten wollen, den machens zuerst verrückt”, diese Videos stammen von großen amerikanischen und europäischen Fernsehsendern. Natürlich wurde der größte Teil der Berichterstattung im Westen von Produzenten erstellt, die Boulevardjournalismus betreiben. Geschichten über UFOs und Videos von Paraden der moralisch Verkommenen verkaufen Zeitungen und verbessern die Einschaltquoten.

Für das russische Staatsfernsehen dient das alles jedoch dem laufenden Informationskrieg, in dem der Kreml der verleumderischen, gegen Putin gerichteten, antirussischen Darstellung aus Washington, London und Brüssel seine eigene Darstellung entgegensetzt, in der Russland der Verteidiger traditioneller Werte gegen die Satanisten und Perversen ist, die jetzt in den westlichen Ländern herrschen. Das russische Fernsehen strahlt Sondersendungen darüber aus, wie normale, gottesfürchtige Christen, die im Westen leben, nach Russland umsiedeln, um ihre Kinder in einer moralisch gesunden Umgebung aufzuziehen.

Ich schreibe Ihnen heute aus Knokke, einem Ferienort an der belgischen Küste, 120 km von Brüssel und 20 km von Brügge entfernt, dem Epizentrum des Auslandstourismus in Belgien, wo die Realität um mich herum in meiner Mietwohnung alle Vorstellungen vom moralischen Verfall und möglichen Untergang des Westens völlig umstößt. In der Tat könnte Wladimir Putin morgen hierher ziehen und sich mit der Art und Weise, wie traditionelle Werte das tägliche Leben beherrschen, völlig wohl fühlen.

Diese Stadt mit 33.000 Einwohnern ist wahrscheinlich die reichste pro Kopf in Belgien. Das ist erwähnenswert, denn der Kreuzzug gegen die traditionellen Werte wird überall von den Eliten geführt, nicht vom “Mann auf der Straße”, und zwar aus Gründen des politischen Gewinns durch den Aspekt des “Teile und Herrsche” der Identitätspolitik. Ich sage “wohlhabend” in einem eingeschränkten Sinne: Wenn Einzimmerwohnungen für eine halbe Million und Familienwohnungen für zwei oder drei Millionen Euro verkauft werden, sind die Eigentümer genau genommen “Millionäre”. Gleichzeitig sind sie aber keine Milliardäre, die ihre Feriendomizile eher an den Ufern des Comer Sees in Italien oder an anderen prestigeträchtigen Orten im Ausland haben. Ich vermute, dass die Leute, die ich in diesen Tagen vor Saisonbeginn an der Digue (wörtlich “Deich”, aber in Wirklichkeit ein sehr breiter Bürgersteig, der an den Strand grenzt) flanieren sehe, erfolgreiche Inhaber von Kleinunternehmen, Führungskräfte in großen Unternehmen und hohe Beamte sind, die alle für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Es sind Belgier mit einer kleinen Beimischung von urlaubenden Deutschen, Franzosen und Besuchern aus anderen nahe gelegenen Ländern. Während der Hochsaison gibt es eine große Anzahl von Tagesbesuchern, die aus allen Schichten der belgischen Gesellschaft kommen und die ich im Folgenden nicht berücksichtigen werde.

Der überwältigende Eindruck ist, dass Knokke ein Familienort ist. Es gibt viele junge Paare, die Kinderwagen mit ihrem frisch geschlüpften Nachwuchs schieben oder Kleinkinder und Kinder im Kindergartenalter begleiten, die ihre ersten Fahrten auf Rollern oder Fahrrädern unternehmen. Aber es gibt auch viele Rentner, die an Wochenenden oder in den Ferien auf ihre Enkelkinder aufpassen, während sich die Eltern eine Auszeit nehmen.

Ein Rückgang der Fruchtbarkeit scheint in Flandern nicht zu bestehen. Viele Paare haben zwei oder drei Kinder im Schlepptau. Unter den Jugendlichen gibt es ‘Girl Power’-Dreier, und die Jungen sind in ähnlichen Gruppen organisiert. Aber im Dating-Alter sehe ich nur heterosexuelle Paare.

Ich zweifle nicht daran, dass die traditionelle Regel von 10 Prozent Homosexuellen in der Bevölkerung von Knokke zutrifft, aber wie in der Vergangenheit gibt es hier keine aggressive Werbung für alternative Lebensstile, keine “in your face”-Paraden. Es gibt keine geschlechtsneutralen Toiletten und keine Werbung für geschlechtsangleichende Operationen in den Medien.

Mitten im Einkaufsviertel von Knokke gibt es eine gut gepflegte katholische Kirche. Dort findet sonntags um 11.30 Uhr eine Messe statt, die ich vielleicht später am Tag besuchen werde, um die Besucher zu zählen. Aber in einer stark kommerziell geprägten Kultur wie der in Knokke ist die Religion kein wichtiger sozialer Faktor. Bei uns kann man sieben Tage die Woche einkaufen, und die Geschäfte sind am Sonntag genauso voll wie an den anderen Tagen.

Die Stimmung hier ist ‘la vie en rose’, denn die guten Zeiten gehen weiter, zumindest für diese Schicht der Bevölkerung. Dieses gute Leben konzentriert sich auf die unschuldigen Freuden der Tafel. In Knokke gibt es viele sehr gute Restaurants und auch einige Restaurants von gastronomischem Rang. Sie scheinen alle gut besucht zu sein. Die Konzentration ist hier viel größer als in Brüssel. Darüber hinaus gibt es eine große Anzahl erstklassiger Traiteure, d.h. Caterer, von denen viele zubereitete und portionierte Gourmetgerichte zum Mitnehmen anbieten, die nur halb so viel kosten wie in Restaurants.

Wofür ist ein Strand am kalten Wasser des Ärmelkanals sonst gut, wenn nicht dafür, mit einem Krug Bier und ein paar Chips oder Erdnüssen in der Hand auf das Meer oder auf die Bummelanten zu schauen? Mein Großvater, der aus Litauen stammte, sagte oft, dass es kein schlechtes Bier gibt. Ich weiß nicht genau, was er damit meinte, aber hier in Knokke sind die belgischen Biere nach wie vor sehr vielfältig und von außergewöhnlicher Qualität. Und jeden Nachmittag sitzen Hunderte von Menschen an Cocktailtischen in von Gastronomen betriebenen Lokalen, um Bier zu trinken und sich zu unterhalten.

Abschließend möchte ich RT oder das russische Staatsfernsehen dringend bitten, ein Team nach Knokke zu schicken, um zu sehen, dass das Ende der Welt in Westeuropa nicht nahe ist. Und auch, um zu sehen, dass die belgische Gesellschaft nicht “des Ukraine-Krieges überdrüssig” ist, wie der russische Botschafter kürzlich gegenüber der Presse erklärte. Sieht man einmal von Premierminister De Croo und seinen Politikerkollegen ab, so ist der belgischen Gesellschaft der Krieg völlig gleichgültig und sie konzentriert sich auf ihre eigenen Vergnügungen und Herausforderungen.

Zum Autoren: Dr. Gilbert Doctorow, Jahrgang 1945, ist politischer Analyst mit Sitz in Brüssel. Gilbert Doctorow ist seit 1965 professioneller Beobachter der Sowjetunion/ Russischen Föderation. Er ist Absolvent des Harvard College (1967) mit magna cum laude, ehemaliger Fulbright-Stipendiat und Inhaber eines Doktortitels mit Auszeichnung in Geschichte von der Columbia University (1975). Nach Abschluss seines Studiums verfolgte Gilbert Doctorow eine Geschäftskarriere mit Schwerpunkt  UdSSR und Osteuropa. 25 Jahre arbeitete er für US-amerikanische und europäische multinationale Unternehmen im Marketing und im General Management mit regionaler Verantwortung. Von 1998 bis 2002 war Doctorow Vorsitzender des Russischen Booker-Literaturpreises in Moskau. Im akademischen Jahr 2010–2011 war er Gastwissenschaftler am Harriman Institute der Columbia University. Seit 2008 veröffentlicht Herr Doctorow regelmäßig analytische Artikel über internationale Angelegenheiten auf verschiedenen Websites, zuletzt auf www.gilbertdoctorow.substack.com  Er hat Sammlungen von Essays als eigenständige Bücher sowie eine zweibändige Ausgabe seiner Tagebücher und Erinnerungen als Memoirs of Russianist veröffentlicht.

Disclaimer: Berlin 24/ 7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7  widerspiegeln.

Kommentare